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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Erstes Capitel.
IX.
Aehnlichk. der
ersten Figuren
bey den Aegy
ptern, Hetru-
riern und
Griechen.

Die ersten Züge dieser Gestalten bey den Griechen waren einfältig und
mehrentheils gerade Linien, und unter Aegyptern, Hetruriern und Griechen
wird beym Ursprunge der Kunst unter jedem Volke kein Unterschied gewesen
seyn; wie dieses auch 1) die alten Scribenten bezeugen: und dieses sieht man 2)
an der ältesten griechischen Figur von Erzt in dem Museo Nani zu Vene-
dig, mit der Schrift auf dessen Base: [fremdsprachliches Material].
Auch in dieser platten Art zu zeichnen lieget der Grund von der Aehnlichkeit
der Augen an Köpfen, auf den ältern griechischen Münzen, und an ägypti-
schen Figuren; jene sind wie diese platt und länglich gezogen 3). Die ersten Ge-
mälde hat man sich als Monogrammen, wie Epicurus die Götter nennete,
das ist, wie einlinichte Umschreibungen des Schattens eines Menschen vor-
zustellen.

X.
Größere
Wahrschein-
lichkeit für die
Mittheilung
der Kunst von
den Phöni-
ciern als von
den Aegyptern
an die Grie-
chen.

Es führeten also die ersten Linien und Formen in der Kunst selbst, zur
Bildung einer Art Figuren, welche man insgemein Aegyptische nennet.
Es hätten auch die Griechen nicht viel Gelegenheit gehabt, in der Kunst
etwas von den Aegyptern zu erlernen: denn vor dem Könige Psammeti-
chus war allen Fremden der Zutritt in Aegypten versaget, und die Griechen
übeten die Kunst schon vor dieser Zeit. Die Absicht der Reisen, welche die
Griechischen Weisen nach Aegypten thaten, gieng vornehmlich 4) auf die Re-
gierungsform dieses Landes. Es wäre für diejenigen, welche alles aus den
Morgenländern herführen, mehr Wahrscheinlichkeit auf Seiten der Phö-

nicier,
1) Diodor. Sic. L. I. p. 87. l. 35. Strab. Geogr. L. 17. p. 806.
2) Paciaudi Monum. Pelopon. T. 2. p. 51.
3) Dergleichen Augen hat vermuthlich Diodorus Hist. L. 4. anzeigen wollen, wo er von
den Figuren des Dädalus redet: er saget, dieser Künstler habe dieselben gebildet
ommasi memukota, welches die Uebersetzer gegeben haben; luminibus clausis, mit zu-
geschlossenen Augen
. Dieses ist nicht wahrscheinlich: denn wenn er hat Augen
machen wollen, wird er sie offen gemachet haben. Es ist auch die Uebersetzung
ganz und gar wider die eigentliche und beständige Bedeutung des Worts memukos,
welches mit den Augen blinzen, nictare, und im Ital. sbirciare heißt, und mit con-
niventibus oculis
müßte ausgedrücket werden. Memukota khalea beym Non. Dionys.
I. 4. p. 75. v.
8. sind halb eröffnete Lippen.
4) Strab. L. 10. p. 482. C. Plutarch. Solon. p. 146. l. 28.
I Theil. Erſtes Capitel.
IX.
Aehnlichk. der
erſten Figuren
bey den Aegy
ptern, Hetru-
riern und
Griechen.

Die erſten Zuͤge dieſer Geſtalten bey den Griechen waren einfaͤltig und
mehrentheils gerade Linien, und unter Aegyptern, Hetruriern und Griechen
wird beym Urſprunge der Kunſt unter jedem Volke kein Unterſchied geweſen
ſeyn; wie dieſes auch 1) die alten Scribenten bezeugen: und dieſes ſieht man 2)
an der aͤlteſten griechiſchen Figur von Erzt in dem Muſeo Nani zu Vene-
dig, mit der Schrift auf deſſen Baſe: [fremdsprachliches Material].
Auch in dieſer platten Art zu zeichnen lieget der Grund von der Aehnlichkeit
der Augen an Koͤpfen, auf den aͤltern griechiſchen Muͤnzen, und an aͤgypti-
ſchen Figuren; jene ſind wie dieſe platt und laͤnglich gezogen 3). Die erſten Ge-
maͤlde hat man ſich als Monogrammen, wie Epicurus die Goͤtter nennete,
das iſt, wie einlinichte Umſchreibungen des Schattens eines Menſchen vor-
zuſtellen.

X.
Groͤßere
Wahrſchein-
lichkeit fuͤr die
Mittheilung
der Kunſt von
den Phoͤni-
ciern als von
den Aegyptern
an die Grie-
chen.

Es fuͤhreten alſo die erſten Linien und Formen in der Kunſt ſelbſt, zur
Bildung einer Art Figuren, welche man insgemein Aegyptiſche nennet.
Es haͤtten auch die Griechen nicht viel Gelegenheit gehabt, in der Kunſt
etwas von den Aegyptern zu erlernen: denn vor dem Koͤnige Pſammeti-
chus war allen Fremden der Zutritt in Aegypten verſaget, und die Griechen
uͤbeten die Kunſt ſchon vor dieſer Zeit. Die Abſicht der Reiſen, welche die
Griechiſchen Weiſen nach Aegypten thaten, gieng vornehmlich 4) auf die Re-
gierungsform dieſes Landes. Es waͤre fuͤr diejenigen, welche alles aus den
Morgenlaͤndern herfuͤhren, mehr Wahrſcheinlichkeit auf Seiten der Phoͤ-

nicier,
1) Diodor. Sic. L. I. p. 87. l. 35. Strab. Geogr. L. 17. p. 806.
2) Paciaudi Monum. Pelopon. T. 2. p. 51.
3) Dergleichen Augen hat vermuthlich Diodorus Hiſt. L. 4. anzeigen wollen, wo er von
den Figuren des Daͤdalus redet: er ſaget, dieſer Kuͤnſtler habe dieſelben gebildet
ὄμμασι μεμυκότα, welches die Ueberſetzer gegeben haben; luminibus clauſis, mit zu-
geſchloſſenen Augen
. Dieſes iſt nicht wahrſcheinlich: denn wenn er hat Augen
machen wollen, wird er ſie offen gemachet haben. Es iſt auch die Ueberſetzung
ganz und gar wider die eigentliche und beſtaͤndige Bedeutung des Worts μεμυκὼς,
welches mit den Augen blinzen, nictare, und im Ital. ſbirciare heißt, und mit con-
niventibus oculis
muͤßte ausgedruͤcket werden. Μεμυκότα χάλεα beym Non. Dionyſ.
I. 4. p. 75. v.
8. ſind halb eroͤffnete Lippen.
4) Strab. L. 10. p. 482. C. Plutarch. Solon. p. 146. l. 28.
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[8/0058] I Theil. Erſtes Capitel. Die erſten Zuͤge dieſer Geſtalten bey den Griechen waren einfaͤltig und mehrentheils gerade Linien, und unter Aegyptern, Hetruriern und Griechen wird beym Urſprunge der Kunſt unter jedem Volke kein Unterſchied geweſen ſeyn; wie dieſes auch 1) die alten Scribenten bezeugen: und dieſes ſieht man 2) an der aͤlteſten griechiſchen Figur von Erzt in dem Muſeo Nani zu Vene- dig, mit der Schrift auf deſſen Baſe: _ . Auch in dieſer platten Art zu zeichnen lieget der Grund von der Aehnlichkeit der Augen an Koͤpfen, auf den aͤltern griechiſchen Muͤnzen, und an aͤgypti- ſchen Figuren; jene ſind wie dieſe platt und laͤnglich gezogen 3). Die erſten Ge- maͤlde hat man ſich als Monogrammen, wie Epicurus die Goͤtter nennete, das iſt, wie einlinichte Umſchreibungen des Schattens eines Menſchen vor- zuſtellen. Es fuͤhreten alſo die erſten Linien und Formen in der Kunſt ſelbſt, zur Bildung einer Art Figuren, welche man insgemein Aegyptiſche nennet. Es haͤtten auch die Griechen nicht viel Gelegenheit gehabt, in der Kunſt etwas von den Aegyptern zu erlernen: denn vor dem Koͤnige Pſammeti- chus war allen Fremden der Zutritt in Aegypten verſaget, und die Griechen uͤbeten die Kunſt ſchon vor dieſer Zeit. Die Abſicht der Reiſen, welche die Griechiſchen Weiſen nach Aegypten thaten, gieng vornehmlich 4) auf die Re- gierungsform dieſes Landes. Es waͤre fuͤr diejenigen, welche alles aus den Morgenlaͤndern herfuͤhren, mehr Wahrſcheinlichkeit auf Seiten der Phoͤ- nicier, 1) Diodor. Sic. L. I. p. 87. l. 35. Strab. Geogr. L. 17. p. 806. 2) Paciaudi Monum. Pelopon. T. 2. p. 51. 3) Dergleichen Augen hat vermuthlich Diodorus Hiſt. L. 4. anzeigen wollen, wo er von den Figuren des Daͤdalus redet: er ſaget, dieſer Kuͤnſtler habe dieſelben gebildet ὄμμασι μεμυκότα, welches die Ueberſetzer gegeben haben; luminibus clauſis, mit zu- geſchloſſenen Augen. Dieſes iſt nicht wahrſcheinlich: denn wenn er hat Augen machen wollen, wird er ſie offen gemachet haben. Es iſt auch die Ueberſetzung ganz und gar wider die eigentliche und beſtaͤndige Bedeutung des Worts μεμυκὼς, welches mit den Augen blinzen, nictare, und im Ital. ſbirciare heißt, und mit con- niventibus oculis muͤßte ausgedruͤcket werden. Μεμυκότα χάλεα beym Non. Dionyſ. I. 4. p. 75. v. 8. ſind halb eroͤffnete Lippen. 4) Strab. L. 10. p. 482. C. Plutarch. Solon. p. 146. l. 28.

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/58>, abgerufen am 21.11.2024.