Wolff, Christian von: Vernünfftige Gedancken Von den Würckungen der Natur. Halle (Saale), 1723.Cap. XIII. Von Erzeugung verlohren gegangen. Es ist wohl wahr,daß man das jenige, was darinnen stecket, durch viele Grade der Kleinigkeiten muß durch paßiren lassen, ehe es die Gestalt ge- winnet, in welcher es in dem Saamen- Körnlein anzutreffen, und solchergestalt erst durch unzehliche Veränderungen dieselbe Gestalt und Grösse erreichen kan: allein dessen ungeachtet macht es der Einbil- dungs-Krafft viel zu schaffen, wie in dem kleinen Aeuglein, so man zwischen den Hertz- blättlein des Pfläntzleins im Saamen an- trifft, in unendlichen Graden der Kleinigkeit immer ein kleineres in dem grösseren stecken sol, weil das jenige, was nur in tausend Jahren aus einem einigen Saamen-Körn- lein entsprosset, eine unzehliche Menge aus- machet, geschweige denn wenn man gar auf das jenige gehen sollte, was heraus wachsen kan. Wil man aber die andere Meinung annehmen, so setzet es nicht weni- ger Schwierigkeit. Denn weil man keine Ursache sagen kan, warumb in eine jede Pflantze bloß Pfläntzlein von ihrer Art kom- men sollten und keine andere, auch die Er- fahrung bey dem Pfropffen das Gegentheil zeiget, da z. E. Abricosen und Pfersichen zu- gleich auf einem Pflaum-Stamme wachsen; so müsten alle Arten der Pfläntzlein aus einer Art kleinerer Pfläntzlein werden können: welches der Natur der Dinge nicht
Cap. XIII. Von Erzeugung verlohren gegangen. Es iſt wohl wahr,daß man das jenige, was darinnen ſtecket, durch viele Grade der Kleinigkeiten muß durch paßiren laſſen, ehe es die Geſtalt ge- winnet, in welcher es in dem Saamen- Koͤrnlein anzutreffen, und ſolchergeſtalt erſt durch unzehliche Veraͤnderungen dieſelbe Geſtalt und Groͤſſe erreichen kan: allein deſſen ungeachtet macht es der Einbil- dungs-Krafft viel zu ſchaffen, wie in dem kleinen Aeuglein, ſo man zwiſchen den Hertz- blaͤttlein des Pflaͤntzleins im Saamen an- trifft, in unendlichen Graden der Kleinigkeit immer ein kleineres in dem groͤſſeren ſtecken ſol, weil das jenige, was nur in tauſend Jahren aus einem einigen Saamen-Koͤrn- lein entſproſſet, eine unzehliche Menge aus- machet, geſchweige denn wenn man gar auf das jenige gehen ſollte, was heraus wachſen kan. Wil man aber die andere Meinung annehmen, ſo ſetzet es nicht weni- ger Schwierigkeit. Denn weil man keine Urſache ſagen kan, warumb in eine jede Pflantze bloß Pflaͤntzlein von ihrer Art kom- men ſollten und keine andere, auch die Er- fahrung bey dem Pfropffen das Gegentheil zeiget, da z. E. Abricoſen und Pferſichen zu- gleich auf einem Pflaum-Stamme wachſen; ſo muͤſten alle Arten der Pflaͤntzlein aus einer Art kleinerer Pflaͤntzlein werden koͤnnen: welches der Natur der Dinge nicht
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Cap. XIII. Von Erzeugung
verlohren gegangen. Es iſt wohl wahr,
daß man das jenige, was darinnen ſtecket,
durch viele Grade der Kleinigkeiten muß
durch paßiren laſſen, ehe es die Geſtalt ge-
winnet, in welcher es in dem Saamen-
Koͤrnlein anzutreffen, und ſolchergeſtalt erſt
durch unzehliche Veraͤnderungen dieſelbe
Geſtalt und Groͤſſe erreichen kan: allein
deſſen ungeachtet macht es der Einbil-
dungs-Krafft viel zu ſchaffen, wie in dem
kleinen Aeuglein, ſo man zwiſchen den Hertz-
blaͤttlein des Pflaͤntzleins im Saamen an-
trifft, in unendlichen Graden der Kleinigkeit
immer ein kleineres in dem groͤſſeren ſtecken
ſol, weil das jenige, was nur in tauſend
Jahren aus einem einigen Saamen-Koͤrn-
lein entſproſſet, eine unzehliche Menge aus-
machet, geſchweige denn wenn man gar
auf das jenige gehen ſollte, was heraus
wachſen kan. Wil man aber die andere
Meinung annehmen, ſo ſetzet es nicht weni-
ger Schwierigkeit. Denn weil man keine
Urſache ſagen kan, warumb in eine jede
Pflantze bloß Pflaͤntzlein von ihrer Art kom-
men ſollten und keine andere, auch die Er-
fahrung bey dem Pfropffen das Gegentheil
zeiget, da z. E. Abricoſen und Pferſichen zu-
gleich auf einem Pflaum-Stamme wachſen;
ſo muͤſten alle Arten der Pflaͤntzlein
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