Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_128.001 Sicheren geschichtlichen Boden betreten wir indes erst mit Ausbildung pwo_128.015 Von der Form müssen wir denn auch ausgehen, wenn wir die pwo_128.022 Unter den Joniern, welche diese Form ausbildeten, gilt Kallinos pwo_128.029 pwo_128.001 Sicheren geschichtlichen Boden betreten wir indes erst mit Ausbildung pwo_128.015 Von der Form müssen wir denn auch ausgehen, wenn wir die pwo_128.022 Unter den Joniern, welche diese Form ausbildeten, gilt Kallinos pwo_128.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0142" n="128"/><lb n="pwo_128.001"/> waren: Orakelsprüchen, Zauberliedern, Brautgesängen, Totenklagen, <lb n="pwo_128.002"/> gesellten sich erst später weltliche, private, individuelle Lieder, die <lb n="pwo_128.003"/> immer noch unter Begleitung von Jnstrumentalmusik gesungen wurden. <lb n="pwo_128.004"/> Der ursprünglich erzählende Kern war am Anfang und Schluß <lb n="pwo_128.005"/> auf das Gefühl zugespitzt, wofür sich eine Reihe von <hi rendition="#g">festen Formeln</hi> <lb n="pwo_128.006"/> ausgebildet hatten. So begegnen wir oft einer Eingangspartikel <lb n="pwo_128.007"/> zur Herausforderung der Aufmerksamkeit. Der Schluß einzelner <lb n="pwo_128.008"/> Abschnitte bestand zum teil in Anrufungen der Götter oder in andern <lb n="pwo_128.009"/> <hi rendition="#g">Jnterjektionen,</hi> zum teil ließ er alsdann bereits ein Leitmotiv <lb n="pwo_128.010"/> <hi rendition="#g">refränartig</hi> wiederklingen. Genug, ein erzählender Kern ist auf <lb n="pwo_128.011"/> eine Grundempfindung gestimmt. Auch die Hochzeitslust und Totenklage, <lb n="pwo_128.012"/> überhaupt Empfindungen, die bei feierlichen Aufzügen zunächst <lb n="pwo_128.013"/> im Chor vorgetragen wurden, haben so ihre Aussprache gefunden.</p> <lb n="pwo_128.014"/> <p> Sicheren geschichtlichen Boden betreten wir indes erst mit Ausbildung <lb n="pwo_128.015"/> der <hi rendition="#g">Elegie,</hi> welcher bald die <hi rendition="#g">jambische</hi> Poesie und schließlich <lb n="pwo_128.016"/> das <hi rendition="#g">Melos</hi> folgten. Da bleibt es unter allen Umständen ein <lb n="pwo_128.017"/> bedeutsames Zeugnis, wenn ein Aristoteles die beiden erstgenannten <lb n="pwo_128.018"/> lyrischen Arten noch an die epische Poesie heranrückt (Poetik, Kapitel 1): <lb n="pwo_128.019"/> das Herausringen der lyrischen Empfindung aus der epischen Form <lb n="pwo_128.020"/> wird um so augenscheinlicher.</p> <lb n="pwo_128.021"/> <p> Von der Form müssen wir denn auch ausgehen, wenn wir die <lb n="pwo_128.022"/> Ausbildung dieser neuen Dichtweise verfolgen wollen. Die Elegie <lb n="pwo_128.023"/> verwendet von Anfang an das Versmaß, welches noch heute mit <lb n="pwo_128.024"/> ihrem Namen verbunden ist. Zu dem epischen Hexameter gesellt sich <lb n="pwo_128.025"/> ein Pentameter, und die derart wechselnde Empfindungsskala des Distichon <lb n="pwo_128.026"/> giebt immer wieder dem mit epischer Ruhe einsetzenden Gedicht <lb n="pwo_128.027"/> eine springende Bewegung.</p> <lb n="pwo_128.028"/> <p> Unter den Joniern, welche diese Form ausbildeten, gilt Kallinos <lb n="pwo_128.029"/> als der erste Dichter der Gattung (um 700 v. Chr.). Den Zusammenhang <lb n="pwo_128.030"/> mit der epischen Dichtung wahrt sie auch noch durch den <lb n="pwo_128.031"/> Stoff, der auf die kriegerischen nationalen Ereignisse hingewandt ist. <lb n="pwo_128.032"/> Die einzige einigermaßen vollständige Elegie, die uns von ihm überkommen <lb n="pwo_128.033"/> ist, gewährt uns jedenfalls Einblick in das Wesen der sich <lb n="pwo_128.034"/> nun anspinnenden Entwicklung. Gleich anfangs bemerken wir, daß <lb n="pwo_128.035"/> es sich nicht mehr um Feier vergangener Thaten handelt, daß die </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [128/0142]
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waren: Orakelsprüchen, Zauberliedern, Brautgesängen, Totenklagen, pwo_128.002
gesellten sich erst später weltliche, private, individuelle Lieder, die pwo_128.003
immer noch unter Begleitung von Jnstrumentalmusik gesungen wurden. pwo_128.004
Der ursprünglich erzählende Kern war am Anfang und Schluß pwo_128.005
auf das Gefühl zugespitzt, wofür sich eine Reihe von festen Formeln pwo_128.006
ausgebildet hatten. So begegnen wir oft einer Eingangspartikel pwo_128.007
zur Herausforderung der Aufmerksamkeit. Der Schluß einzelner pwo_128.008
Abschnitte bestand zum teil in Anrufungen der Götter oder in andern pwo_128.009
Jnterjektionen, zum teil ließ er alsdann bereits ein Leitmotiv pwo_128.010
refränartig wiederklingen. Genug, ein erzählender Kern ist auf pwo_128.011
eine Grundempfindung gestimmt. Auch die Hochzeitslust und Totenklage, pwo_128.012
überhaupt Empfindungen, die bei feierlichen Aufzügen zunächst pwo_128.013
im Chor vorgetragen wurden, haben so ihre Aussprache gefunden.
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Sicheren geschichtlichen Boden betreten wir indes erst mit Ausbildung pwo_128.015
der Elegie, welcher bald die jambische Poesie und schließlich pwo_128.016
das Melos folgten. Da bleibt es unter allen Umständen ein pwo_128.017
bedeutsames Zeugnis, wenn ein Aristoteles die beiden erstgenannten pwo_128.018
lyrischen Arten noch an die epische Poesie heranrückt (Poetik, Kapitel 1): pwo_128.019
das Herausringen der lyrischen Empfindung aus der epischen Form pwo_128.020
wird um so augenscheinlicher.
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Von der Form müssen wir denn auch ausgehen, wenn wir die pwo_128.022
Ausbildung dieser neuen Dichtweise verfolgen wollen. Die Elegie pwo_128.023
verwendet von Anfang an das Versmaß, welches noch heute mit pwo_128.024
ihrem Namen verbunden ist. Zu dem epischen Hexameter gesellt sich pwo_128.025
ein Pentameter, und die derart wechselnde Empfindungsskala des Distichon pwo_128.026
giebt immer wieder dem mit epischer Ruhe einsetzenden Gedicht pwo_128.027
eine springende Bewegung.
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Unter den Joniern, welche diese Form ausbildeten, gilt Kallinos pwo_128.029
als der erste Dichter der Gattung (um 700 v. Chr.). Den Zusammenhang pwo_128.030
mit der epischen Dichtung wahrt sie auch noch durch den pwo_128.031
Stoff, der auf die kriegerischen nationalen Ereignisse hingewandt ist. pwo_128.032
Die einzige einigermaßen vollständige Elegie, die uns von ihm überkommen pwo_128.033
ist, gewährt uns jedenfalls Einblick in das Wesen der sich pwo_128.034
nun anspinnenden Entwicklung. Gleich anfangs bemerken wir, daß pwo_128.035
es sich nicht mehr um Feier vergangener Thaten handelt, daß die
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