Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_139.001 "Doch weiß ich wohl, daß ich nicht lange mehr pwo_139.002 pwo_139.003Hier schmachten muß in Haft." Leicht mengt sich nun eine allgemeine Betrachtung ein: pwo_139.004"Wohl ist es mir gewiß zu dieser Zeit: pwo_139.005 pwo_139.006Tot und gefangen thut man niemand leid." Jm übrigen bleibt die Darstellung individuell beziehungsreich, nur pwo_139.007 "Kein Wunder, daß mein Herz von Kummer schwer: pwo_139.010 pwo_139.012Mein Herr drängt ja das Land mir allzusehr pwo_139.011 Und denket unsers Eides nimmermehr" etc. Noch unmittelbarer bringt der Refrän des bekannten Tageliedes die pwo_139.013 "Jn einem Garten, unterm Weißdornzelt pwo_139.017 pwo_139.020Jst die Geliebte mit dem Freund gesellt, pwo_139.018 Bis daß des Wächters Warnungszeichen gellt. pwo_139.019 Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh!" Erst dieser Refrän, bezeichnenderweise ein Ausruf, spitzt die Erzählung pwo_139.021 "Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh!" pwo_139.025 Die Liebe ist es, welche dieser Lyrik vor allem ihren Stempel pwo_139.026 pwo_139.001 „Doch weiß ich wohl, daß ich nicht lange mehr pwo_139.002 pwo_139.003Hier schmachten muß in Haft.“ Leicht mengt sich nun eine allgemeine Betrachtung ein: pwo_139.004„Wohl ist es mir gewiß zu dieser Zeit: pwo_139.005 pwo_139.006Tot und gefangen thut man niemand leid.“ Jm übrigen bleibt die Darstellung individuell beziehungsreich, nur pwo_139.007 „Kein Wunder, daß mein Herz von Kummer schwer: pwo_139.010 pwo_139.012Mein Herr drängt ja das Land mir allzusehr pwo_139.011 Und denket unsers Eides nimmermehr“ etc. Noch unmittelbarer bringt der Refrän des bekannten Tageliedes die pwo_139.013 „Jn einem Garten, unterm Weißdornzelt pwo_139.017 pwo_139.020Jst die Geliebte mit dem Freund gesellt, pwo_139.018 Bis daß des Wächters Warnungszeichen gellt. pwo_139.019 Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh!“ Erst dieser Refrän, bezeichnenderweise ein Ausruf, spitzt die Erzählung pwo_139.021 „Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh!“ pwo_139.025 Die Liebe ist es, welche dieser Lyrik vor allem ihren Stempel pwo_139.026 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0153" n="139"/> <lb n="pwo_139.001"/> <lg> <l>„Doch weiß ich wohl, daß ich <hi rendition="#g">nicht lange mehr</hi></l> <lb n="pwo_139.002"/> <l>Hier schmachten muß in Haft.“</l> </lg> <lb n="pwo_139.003"/> <p>Leicht mengt sich nun eine <hi rendition="#g">allgemeine</hi> Betrachtung ein:</p> <lb n="pwo_139.004"/> <lg> <l>„Wohl ist es mir gewiß zu dieser Zeit:</l> <lb n="pwo_139.005"/> <l>Tot und gefangen thut man niemand leid.“</l> </lg> <lb n="pwo_139.006"/> <p>Jm übrigen bleibt die Darstellung individuell beziehungsreich, nur <lb n="pwo_139.007"/> daß äußere Thatsachen aus Richards Leben von direkter Aussprache <lb n="pwo_139.008"/> seiner Gefühle durchschlungen sind:</p> <lb n="pwo_139.009"/> <lg> <l>„Kein Wunder, daß mein Herz von Kummer schwer:</l> <lb n="pwo_139.010"/> <l>Mein Herr drängt ja das Land mir allzusehr</l> <lb n="pwo_139.011"/> <l>Und denket unsers Eides nimmermehr“ etc.</l> </lg> <lb n="pwo_139.012"/> <p>Noch unmittelbarer bringt der Refrän des bekannten Tageliedes die <lb n="pwo_139.013"/> eine fortdauernde Grundempfindung inmitten von epischer und epischdramatischer <lb n="pwo_139.014"/> Darstellung zum Ausdruck. 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Jn direkter Rede entspinnt sich nun von Strophe <lb n="pwo_139.022"/> zu Strophe zwar eine gewisse Wandlung der Scene, doch immer mit <lb n="pwo_139.023"/> der einen Grundsituation, die der Geliebten den Wunschruf entlockt:</p> <lb n="pwo_139.024"/> <lg> <l>„Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh!“</l> </lg> <lb n="pwo_139.025"/> <p> Die <hi rendition="#g">Liebe</hi> ist es, welche dieser Lyrik vor allem ihren Stempel <lb n="pwo_139.026"/> aufdrückt und seitdem – auch bei uns in Deutschland – zum Hauptgegenstand <lb n="pwo_139.027"/> lyrischer, in der Folge aller poetischen Darstellung erwachsen <lb n="pwo_139.028"/> ist, wie es vordem die Kampfeslust und nationale Thatkraft gewesen. <lb n="pwo_139.029"/> Die Liebe aber, wie sie sich hier ausspricht, ist nicht eine <lb n="pwo_139.030"/> rein natürliche Empfindung, sondern zum guten teil ein konventionelles <lb n="pwo_139.031"/> Spiel der Phantasie, das seine Absicht denn auch nicht auf das natürliche <lb n="pwo_139.032"/> Ziel der Liebe, auf die Ehe, richtet, sondern sich entweder mit <lb n="pwo_139.033"/> poetischer Verherrlichung und Huldigung begnügt oder sich in Ausschweifung <lb n="pwo_139.034"/> verliert. Wohl in den meisten Fällen war die besungene <lb n="pwo_139.035"/> Dame bereits vermählt. Oft handelt es sich um die Gattin eines </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [139/0153]
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„Doch weiß ich wohl, daß ich nicht lange mehr pwo_139.002
Hier schmachten muß in Haft.“
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Leicht mengt sich nun eine allgemeine Betrachtung ein:
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„Wohl ist es mir gewiß zu dieser Zeit: pwo_139.005
Tot und gefangen thut man niemand leid.“
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Jm übrigen bleibt die Darstellung individuell beziehungsreich, nur pwo_139.007
daß äußere Thatsachen aus Richards Leben von direkter Aussprache pwo_139.008
seiner Gefühle durchschlungen sind:
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„Kein Wunder, daß mein Herz von Kummer schwer: pwo_139.010
Mein Herr drängt ja das Land mir allzusehr pwo_139.011
Und denket unsers Eides nimmermehr“ etc.
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Noch unmittelbarer bringt der Refrän des bekannten Tageliedes die pwo_139.013
eine fortdauernde Grundempfindung inmitten von epischer und epischdramatischer pwo_139.014
Darstellung zum Ausdruck. Rein erzählend setzt das pwo_139.015
Lied ein:
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Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh!“
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Erst dieser Refrän, bezeichnenderweise ein Ausruf, spitzt die Erzählung pwo_139.021
lyrisch zu. Jn direkter Rede entspinnt sich nun von Strophe pwo_139.022
zu Strophe zwar eine gewisse Wandlung der Scene, doch immer mit pwo_139.023
der einen Grundsituation, die der Geliebten den Wunschruf entlockt:
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„Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh!“
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Die Liebe ist es, welche dieser Lyrik vor allem ihren Stempel pwo_139.026
aufdrückt und seitdem – auch bei uns in Deutschland – zum Hauptgegenstand pwo_139.027
lyrischer, in der Folge aller poetischen Darstellung erwachsen pwo_139.028
ist, wie es vordem die Kampfeslust und nationale Thatkraft gewesen. pwo_139.029
Die Liebe aber, wie sie sich hier ausspricht, ist nicht eine pwo_139.030
rein natürliche Empfindung, sondern zum guten teil ein konventionelles pwo_139.031
Spiel der Phantasie, das seine Absicht denn auch nicht auf das natürliche pwo_139.032
Ziel der Liebe, auf die Ehe, richtet, sondern sich entweder mit pwo_139.033
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Dame bereits vermählt. Oft handelt es sich um die Gattin eines
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