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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Ezechieles porte, diu nie wart auf getan, pwo_155.002
dur die der künec herliche wart auz und in gelan! pwo_155.003
also diu sunne scheinet durh ganz geworhtez glas, pwo_155.004
also gebar diu reine Krist, diu maget und muoter was. pwo_155.005
Ein bosch der bran, da nie niht an besenget noch verbrennet pwo_155.006
wart" &c.
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"Daz auz dem worte erwahsen sei, pwo_155.008
daz ist von kindes sinnen vrei: pwo_155.009
ez wuohs ze worte und wart ein man. pwo_155.010
da merkent alle ein wunder an ..."

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Wie mit epischer ist der Leich stark mit lyrischer Bibelparaphrase pwo_155.012
durchsetzt:

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"Daz lamp daz ist pwo_155.014
der ware Crist, pwo_155.015
da von dau bist pwo_155.016
nau alle frist pwo_155.017
gehoehet und geheret" &c.

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So regen denn biblische Vorstellungen weitere lyrische Wendungen pwo_155.019
des Dichters an:

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"Wie kund des iemer werden rat, pwo_155.021
der umbe seine missetat pwo_155.022
niht herzeleicher riuwe hat, pwo_155.023
seit got enheine sünde lat pwo_155.024
Die niht geriuwent zaller stunt pwo_155.025
hin abe unz auf des herzen grunt?"

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Die hypothetische Frageform, in der hier die Aussage auftritt, giebt pwo_155.027
ihr lyrischen Anstrich. - Wer wollte das Zurückgehen auf die internationale pwo_155.028
lateinische Kirchenpoesie in den schmuckreichen Anrufungen pwo_155.029
verkennen:

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"Nau senfte uns, frouwe, seinen zorn, pwo_155.031
barmherzic muoter auzerkorn, pwo_155.032
dau freier rose sunder dorn, pwo_155.033
dau sunnevarwiu clare! pwo_155.034
Dich lobet der hohen engel schar" &c.

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Jn Walthers Leich klingen schließlich selbst kirchenpolitische Zeitanspielungen pwo_155.036
hinein:

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"Swaz im leides ie gewar, pwo_155.038
daz kam von simoneie gar,
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Ezechiêles porte, diu nie wart ûf getân, pwo_155.002
dur die der künec hêrliche wart ûz und in gelân! pwo_155.003
alsô diu sunne schînet durh ganz geworhtez glas, pwo_155.004
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„Daz ûz dem worte erwahsen sî, pwo_155.008
daz ist von kindes sinnen vrî: pwo_155.009
ez wuohs ze worte und wart ein man. pwo_155.010
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Wie mit epischer ist der Leich stark mit lyrischer Bibelparaphrase pwo_155.012
durchsetzt:

pwo_155.013

„Daz lamp daz ist pwo_155.014
der wâre Crist, pwo_155.015
dâ von dû bist pwo_155.016
nû alle frist pwo_155.017
gehoehet und gehêret“ &c.

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So regen denn biblische Vorstellungen weitere lyrische Wendungen pwo_155.019
des Dichters an:

pwo_155.020

„Wie kund des iemer werden rât, pwo_155.021
der umbe sîne missetât pwo_155.022
niht herzelîcher riuwe hât, pwo_155.023
sît got enheine sünde lât pwo_155.024
  Die niht geriuwent zaller stunt pwo_155.025
hin abe unz ûf des herzen grunt?“

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Die hypothetische Frageform, in der hier die Aussage auftritt, giebt pwo_155.027
ihr lyrischen Anstrich. – Wer wollte das Zurückgehen auf die internationale pwo_155.028
lateinische Kirchenpoesie in den schmuckreichen Anrufungen pwo_155.029
verkennen:

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„Nû senfte uns, frouwe, sînen zorn, pwo_155.031
barmherzic muoter ûzerkorn, pwo_155.032
dû frîer rôse sunder dorn, pwo_155.033
dû sunnevarwiu clâre! pwo_155.034
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Jn Walthers Leich klingen schließlich selbst kirchenpolitische Zeitanspielungen pwo_155.036
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/169>, abgerufen am 24.11.2024.