Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_164.001 § 68. pwo_164.002 pwo_164.003Die deutsche Volkslyrik. Zwei auffallende Erscheinungen beleuchten das Verhältnis der pwo_164.004 Wie sie uns entgegentritt, ist die Volkslyrik jedenfalls ein Ausfluß pwo_164.011 Denn mehr noch als die Gemeinsamkeit bestimmter Motive weist pwo_164.020 So bewahrt denn diese Volkslyrik zahlreiche formelhafte Elemente. pwo_164.035 pwo_164.001 § 68. pwo_164.002 pwo_164.003Die deutsche Volkslyrik. Zwei auffallende Erscheinungen beleuchten das Verhältnis der pwo_164.004 Wie sie uns entgegentritt, ist die Volkslyrik jedenfalls ein Ausfluß pwo_164.011 Denn mehr noch als die Gemeinsamkeit bestimmter Motive weist pwo_164.020 So bewahrt denn diese Volkslyrik zahlreiche formelhafte Elemente. pwo_164.035 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0178" n="164"/> </div> <div n="3"> <lb n="pwo_164.001"/> <head> <hi rendition="#c">§ 68. <lb n="pwo_164.002"/> Die deutsche Volkslyrik.</hi> </head> <lb n="pwo_164.003"/> <p> Zwei auffallende Erscheinungen beleuchten das Verhältnis der <lb n="pwo_164.004"/> Ritterlyrik zur Volkslyrik. Die Teilnahme nichtritterlicher Sänger an <lb n="pwo_164.005"/> der modischen Minnedichtung galt als verpönt. Ja, in ihrer Spätzeit <lb n="pwo_164.006"/> verspottet diese ausdrücklich die einreißende Nachäffung ihrer Motive <lb n="pwo_164.007"/> in Volkskreisen. Beide Umstände verstärken die Zweifel an der Priorität <lb n="pwo_164.008"/> einer ausgebildeten und ausgedehnten Volkslyrik zur Verherrlichung <lb n="pwo_164.009"/> der Liebe oder ähnlicher Empfindungen.</p> <lb n="pwo_164.010"/> <p> Wie sie uns entgegentritt, ist die Volkslyrik jedenfalls ein Ausfluß <lb n="pwo_164.011"/> der mit Zersetzung der ritterlichen Jdeale vor sich gehenden Erstarkung <lb n="pwo_164.012"/> des Bürgertums. Jst die Volkslyrik des 14. bis 17. Jahrhunderts <lb n="pwo_164.013"/> doch zum guten teil Standeslyrik: das Handwerk, ja die <lb n="pwo_164.014"/> einzelnen Gewerke, überhaupt die bürgerlichen Berufszweige kommen <lb n="pwo_164.015"/> zu Wort, die typischen Hauptereignisse des bürgerlichen Lebens suchen <lb n="pwo_164.016"/> Ausdruck in der Poesie: noch weithin erzählend, aber zum teil von <lb n="pwo_164.017"/> Gefühlsergüssen durchbrochen, zum teil ausdrücklich auf Gefühlseindruck <lb n="pwo_164.018"/> gestellt.</p> <lb n="pwo_164.019"/> <p> Denn mehr noch als die Gemeinsamkeit bestimmter Motive weist <lb n="pwo_164.020"/> auf die vorhergehende Ritterlyrik zurück: gewiß hat die tiefer empfindende <lb n="pwo_164.021"/> Minnedichtung nicht nur aus provenzalischen Quellen, sondern <lb n="pwo_164.022"/> auch aus dem allgemeinen, natürlichen deutschen Volksempfinden geschöpft; <lb n="pwo_164.023"/> gewiß hat andererseits die spätere Volkslyrik einzelne in der <lb n="pwo_164.024"/> Ritterdichtung ausgebildete Elemente übernommen – wie selbst die <lb n="pwo_164.025"/> Tagelieder. Was beide Aeußerungsformen früher deutscher Lyrik <lb n="pwo_164.026"/> indes vor allem zusammenrückt, ist die Vortragsweise, die Bestimmung <lb n="pwo_164.027"/> für den <hi rendition="#g">Gesang.</hi> So geschieht es, daß liedartige Anschaulichkeit und <lb n="pwo_164.028"/> melodischer Bau sich noch immer vereinen. Während aber die fremden <lb n="pwo_164.029"/> Muster wie die Ausflüsse kunstmäßiger Bildung die Minnelyrik <lb n="pwo_164.030"/> schnell mit Reflexion und Abstraktion durchsetzen, hält die Lyrik der <lb n="pwo_164.031"/> untern Stände, deren Bildung organischer und langsamer heranreift, <lb n="pwo_164.032"/> mit größerer Zähigkeit die quellfrische Schlichtheit und dramatische <lb n="pwo_164.033"/> Anschaulichkeit des Liedes fest.</p> <lb n="pwo_164.034"/> <p> So bewahrt denn diese Volkslyrik zahlreiche <hi rendition="#g">formelhafte</hi> Elemente. <lb n="pwo_164.035"/> Namentlich sind eine ganze Reihe wiederkehrender Eingangs- </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [164/0178]
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§ 68. pwo_164.002
Die deutsche Volkslyrik. pwo_164.003
Zwei auffallende Erscheinungen beleuchten das Verhältnis der pwo_164.004
Ritterlyrik zur Volkslyrik. Die Teilnahme nichtritterlicher Sänger an pwo_164.005
der modischen Minnedichtung galt als verpönt. Ja, in ihrer Spätzeit pwo_164.006
verspottet diese ausdrücklich die einreißende Nachäffung ihrer Motive pwo_164.007
in Volkskreisen. Beide Umstände verstärken die Zweifel an der Priorität pwo_164.008
einer ausgebildeten und ausgedehnten Volkslyrik zur Verherrlichung pwo_164.009
der Liebe oder ähnlicher Empfindungen.
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Wie sie uns entgegentritt, ist die Volkslyrik jedenfalls ein Ausfluß pwo_164.011
der mit Zersetzung der ritterlichen Jdeale vor sich gehenden Erstarkung pwo_164.012
des Bürgertums. Jst die Volkslyrik des 14. bis 17. Jahrhunderts pwo_164.013
doch zum guten teil Standeslyrik: das Handwerk, ja die pwo_164.014
einzelnen Gewerke, überhaupt die bürgerlichen Berufszweige kommen pwo_164.015
zu Wort, die typischen Hauptereignisse des bürgerlichen Lebens suchen pwo_164.016
Ausdruck in der Poesie: noch weithin erzählend, aber zum teil von pwo_164.017
Gefühlsergüssen durchbrochen, zum teil ausdrücklich auf Gefühlseindruck pwo_164.018
gestellt.
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Denn mehr noch als die Gemeinsamkeit bestimmter Motive weist pwo_164.020
auf die vorhergehende Ritterlyrik zurück: gewiß hat die tiefer empfindende pwo_164.021
Minnedichtung nicht nur aus provenzalischen Quellen, sondern pwo_164.022
auch aus dem allgemeinen, natürlichen deutschen Volksempfinden geschöpft; pwo_164.023
gewiß hat andererseits die spätere Volkslyrik einzelne in der pwo_164.024
Ritterdichtung ausgebildete Elemente übernommen – wie selbst die pwo_164.025
Tagelieder. Was beide Aeußerungsformen früher deutscher Lyrik pwo_164.026
indes vor allem zusammenrückt, ist die Vortragsweise, die Bestimmung pwo_164.027
für den Gesang. So geschieht es, daß liedartige Anschaulichkeit und pwo_164.028
melodischer Bau sich noch immer vereinen. Während aber die fremden pwo_164.029
Muster wie die Ausflüsse kunstmäßiger Bildung die Minnelyrik pwo_164.030
schnell mit Reflexion und Abstraktion durchsetzen, hält die Lyrik der pwo_164.031
untern Stände, deren Bildung organischer und langsamer heranreift, pwo_164.032
mit größerer Zähigkeit die quellfrische Schlichtheit und dramatische pwo_164.033
Anschaulichkeit des Liedes fest.
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So bewahrt denn diese Volkslyrik zahlreiche formelhafte Elemente. pwo_164.035
Namentlich sind eine ganze Reihe wiederkehrender Eingangs-
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