Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

pwo_004.001
naturalistische Sinn der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts pwo_004.002
las aus alledem nur seine eigene Geistlosigkeit heraus: Nachahmung, pwo_004.003
und zwar möglichst unverfälschte Nachahmung der Natur und platte pwo_004.004
Wiedergabe des Rohstoffes sei das Wesen und der Zweck aller Kunst.

pwo_004.005

Ganz in Abhängigkeit von der Lehre der französischen Klassiker pwo_004.006
des 17. Jahrhunderts nimmt Gottsched die gelegentlichen praktischen pwo_004.007
Winke des Aristoteles über die drei Einheiten der Tragödie mit pedantischer pwo_004.008
Veräußerlichung als Grundgesetze über das Wesen dieser Kunstform pwo_004.009
hin.

pwo_004.010

Zu derselben Zeit, da sich die spekulative Philosopie den Banden pwo_004.011
des Aristoteles entwand, um mit Descartes modern, mit Leibniz pwo_004.012
deutsch zu philosophieren, hebt sich somit eine neue Herrschaft des pwo_004.013
Stagiriten auf dem Gebiete der Poetik an. Noch Lessing steht ganz pwo_004.014
im Bann dieser großen Autorität, ja gerade er stellt Aristoteles als pwo_004.015
Kanon hin, von einer Geltung wie Euklid in der Mathematik. Nur pwo_004.016
griff seine Hamburgische Dramaturgie (1767-1769) zum ersten mal pwo_004.017
kongenial auf den Urtext des Aristoteles zurück und hob den humanistischen pwo_004.018
Kern dieser antiken Kunstlehre heraus: die tragischen Leidenschaften pwo_004.019
und ihre Katharsis.

pwo_004.020

Noch heute findet die Autorität des Aristoteles weithin dogmatische pwo_004.021
Anerkennung. Doch hat sich inzwischen aus verschiedenen Keimen pwo_004.022
das Recht selbständiger Forschung über das Wesen der Poesie zur pwo_004.023
Geltung durchgerungen.

pwo_004.024
§ 5. pwo_004.025
Fortsetzung: Die Franzosen.
pwo_004.026

Von den neueren Völkern waren es die Franzosen, die um die pwo_004.027
Wende des 17. und 18. Jahrhunderts, wie auf allen Gebieten, auch pwo_004.028
in der Poetik als Muster galten. Wurden doch selbst die antiken pwo_004.029
Kunstlehren erst durch französische Vermittlung nach Deutschland übernommen.

pwo_004.030
pwo_004.031

Den Renaissance-Poetiken, die ausdrücklich auf dem Altertum pwo_004.032
fußen, folgen Versuche, in der Theorie der Dichtkunst den französischen pwo_004.033
Geist selbstthätig zur Wirkung zu bringen. Boileau vor allem pwo_004.034
prägt den Geist seines Volkes und seines Zeitalters - des Zeitalters pwo_004.035
von Ludwig XIV. - in der Poetik aus. Noch weithin zeigt sich

pwo_004.001
naturalistische Sinn der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts pwo_004.002
las aus alledem nur seine eigene Geistlosigkeit heraus: Nachahmung, pwo_004.003
und zwar möglichst unverfälschte Nachahmung der Natur und platte pwo_004.004
Wiedergabe des Rohstoffes sei das Wesen und der Zweck aller Kunst.

pwo_004.005

  Ganz in Abhängigkeit von der Lehre der französischen Klassiker pwo_004.006
des 17. Jahrhunderts nimmt Gottsched die gelegentlichen praktischen pwo_004.007
Winke des Aristoteles über die drei Einheiten der Tragödie mit pedantischer pwo_004.008
Veräußerlichung als Grundgesetze über das Wesen dieser Kunstform pwo_004.009
hin.

pwo_004.010

  Zu derselben Zeit, da sich die spekulative Philosopie den Banden pwo_004.011
des Aristoteles entwand, um mit Descartes modern, mit Leibniz pwo_004.012
deutsch zu philosophieren, hebt sich somit eine neue Herrschaft des pwo_004.013
Stagiriten auf dem Gebiete der Poetik an. Noch Lessing steht ganz pwo_004.014
im Bann dieser großen Autorität, ja gerade er stellt Aristoteles als pwo_004.015
Kanon hin, von einer Geltung wie Euklid in der Mathematik. Nur pwo_004.016
griff seine Hamburgische Dramaturgie (1767–1769) zum ersten mal pwo_004.017
kongenial auf den Urtext des Aristoteles zurück und hob den humanistischen pwo_004.018
Kern dieser antiken Kunstlehre heraus: die tragischen Leidenschaften pwo_004.019
und ihre Katharsis.

pwo_004.020

  Noch heute findet die Autorität des Aristoteles weithin dogmatische pwo_004.021
Anerkennung. Doch hat sich inzwischen aus verschiedenen Keimen pwo_004.022
das Recht selbständiger Forschung über das Wesen der Poesie zur pwo_004.023
Geltung durchgerungen.

pwo_004.024
§ 5. pwo_004.025
Fortsetzung: Die Franzosen.
pwo_004.026

  Von den neueren Völkern waren es die Franzosen, die um die pwo_004.027
Wende des 17. und 18. Jahrhunderts, wie auf allen Gebieten, auch pwo_004.028
in der Poetik als Muster galten. Wurden doch selbst die antiken pwo_004.029
Kunstlehren erst durch französische Vermittlung nach Deutschland übernommen.

pwo_004.030
pwo_004.031

  Den Renaissance-Poetiken, die ausdrücklich auf dem Altertum pwo_004.032
fußen, folgen Versuche, in der Theorie der Dichtkunst den französischen pwo_004.033
Geist selbstthätig zur Wirkung zu bringen. Boileau vor allem pwo_004.034
prägt den Geist seines Volkes und seines Zeitalters – des Zeitalters pwo_004.035
von Ludwig XIV. – in der Poetik aus. Noch weithin zeigt sich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0018" n="4"/><lb n="pwo_004.001"/>
naturalistische Sinn der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts <lb n="pwo_004.002"/>
las aus alledem nur seine eigene Geistlosigkeit heraus: Nachahmung, <lb n="pwo_004.003"/>
und zwar möglichst unverfälschte Nachahmung der Natur und platte <lb n="pwo_004.004"/>
Wiedergabe des Rohstoffes sei das <hi rendition="#g">Wesen</hi> und der <hi rendition="#g">Zweck</hi> aller Kunst.</p>
            <lb n="pwo_004.005"/>
            <p>  Ganz in Abhängigkeit von der Lehre der französischen Klassiker <lb n="pwo_004.006"/>
des 17. Jahrhunderts nimmt Gottsched die gelegentlichen praktischen <lb n="pwo_004.007"/>
Winke des Aristoteles über die drei Einheiten der Tragödie mit pedantischer <lb n="pwo_004.008"/>
Veräußerlichung als Grundgesetze über das Wesen dieser Kunstform <lb n="pwo_004.009"/>
hin.</p>
            <lb n="pwo_004.010"/>
            <p>  Zu derselben Zeit, da sich die spekulative Philosopie den Banden <lb n="pwo_004.011"/>
des Aristoteles entwand, um mit Descartes modern, mit Leibniz <lb n="pwo_004.012"/>
deutsch zu philosophieren, hebt sich somit eine neue Herrschaft des <lb n="pwo_004.013"/>
Stagiriten auf dem Gebiete der Poetik an. Noch Lessing steht ganz <lb n="pwo_004.014"/>
im Bann dieser großen Autorität, ja gerade er stellt Aristoteles als <lb n="pwo_004.015"/>
Kanon hin, von einer Geltung wie Euklid in der Mathematik. Nur <lb n="pwo_004.016"/>
griff seine Hamburgische Dramaturgie (1767&#x2013;1769) zum ersten mal <lb n="pwo_004.017"/>
kongenial auf den Urtext des Aristoteles zurück und hob den humanistischen <lb n="pwo_004.018"/>
Kern dieser antiken Kunstlehre heraus: die tragischen Leidenschaften <lb n="pwo_004.019"/>
und ihre Katharsis.</p>
            <lb n="pwo_004.020"/>
            <p>  Noch heute findet die Autorität des Aristoteles weithin dogmatische <lb n="pwo_004.021"/>
Anerkennung. Doch hat sich inzwischen aus verschiedenen Keimen <lb n="pwo_004.022"/>
das Recht selbständiger Forschung über das Wesen der Poesie zur <lb n="pwo_004.023"/>
Geltung durchgerungen.</p>
          </div>
          <div n="3">
            <lb n="pwo_004.024"/>
            <head> <hi rendition="#c">§ 5. <lb n="pwo_004.025"/>
Fortsetzung: Die Franzosen.</hi> </head>
            <lb n="pwo_004.026"/>
            <p>  Von den neueren Völkern waren es die Franzosen, die um die <lb n="pwo_004.027"/>
Wende des 17. und 18. Jahrhunderts, wie auf allen Gebieten, auch <lb n="pwo_004.028"/>
in der Poetik als Muster galten. Wurden doch selbst die antiken <lb n="pwo_004.029"/>
Kunstlehren erst durch französische Vermittlung nach Deutschland übernommen.</p>
            <lb n="pwo_004.030"/>
            <lb n="pwo_004.031"/>
            <p>  Den Renaissance-Poetiken, die ausdrücklich auf dem Altertum <lb n="pwo_004.032"/>
fußen, folgen Versuche, in der Theorie der Dichtkunst den französischen <lb n="pwo_004.033"/>
Geist selbstthätig zur Wirkung zu bringen. <hi rendition="#g">Boileau</hi> vor allem <lb n="pwo_004.034"/>
prägt den Geist seines Volkes und seines Zeitalters &#x2013; des Zeitalters <lb n="pwo_004.035"/>
von Ludwig <hi rendition="#aq">XIV</hi>. &#x2013; in der Poetik aus. Noch weithin zeigt sich
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[4/0018] pwo_004.001 naturalistische Sinn der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts pwo_004.002 las aus alledem nur seine eigene Geistlosigkeit heraus: Nachahmung, pwo_004.003 und zwar möglichst unverfälschte Nachahmung der Natur und platte pwo_004.004 Wiedergabe des Rohstoffes sei das Wesen und der Zweck aller Kunst. pwo_004.005   Ganz in Abhängigkeit von der Lehre der französischen Klassiker pwo_004.006 des 17. Jahrhunderts nimmt Gottsched die gelegentlichen praktischen pwo_004.007 Winke des Aristoteles über die drei Einheiten der Tragödie mit pedantischer pwo_004.008 Veräußerlichung als Grundgesetze über das Wesen dieser Kunstform pwo_004.009 hin. pwo_004.010   Zu derselben Zeit, da sich die spekulative Philosopie den Banden pwo_004.011 des Aristoteles entwand, um mit Descartes modern, mit Leibniz pwo_004.012 deutsch zu philosophieren, hebt sich somit eine neue Herrschaft des pwo_004.013 Stagiriten auf dem Gebiete der Poetik an. Noch Lessing steht ganz pwo_004.014 im Bann dieser großen Autorität, ja gerade er stellt Aristoteles als pwo_004.015 Kanon hin, von einer Geltung wie Euklid in der Mathematik. Nur pwo_004.016 griff seine Hamburgische Dramaturgie (1767–1769) zum ersten mal pwo_004.017 kongenial auf den Urtext des Aristoteles zurück und hob den humanistischen pwo_004.018 Kern dieser antiken Kunstlehre heraus: die tragischen Leidenschaften pwo_004.019 und ihre Katharsis. pwo_004.020   Noch heute findet die Autorität des Aristoteles weithin dogmatische pwo_004.021 Anerkennung. Doch hat sich inzwischen aus verschiedenen Keimen pwo_004.022 das Recht selbständiger Forschung über das Wesen der Poesie zur pwo_004.023 Geltung durchgerungen. pwo_004.024 § 5. pwo_004.025 Fortsetzung: Die Franzosen. pwo_004.026   Von den neueren Völkern waren es die Franzosen, die um die pwo_004.027 Wende des 17. und 18. Jahrhunderts, wie auf allen Gebieten, auch pwo_004.028 in der Poetik als Muster galten. Wurden doch selbst die antiken pwo_004.029 Kunstlehren erst durch französische Vermittlung nach Deutschland übernommen. pwo_004.030 pwo_004.031   Den Renaissance-Poetiken, die ausdrücklich auf dem Altertum pwo_004.032 fußen, folgen Versuche, in der Theorie der Dichtkunst den französischen pwo_004.033 Geist selbstthätig zur Wirkung zu bringen. Boileau vor allem pwo_004.034 prägt den Geist seines Volkes und seines Zeitalters – des Zeitalters pwo_004.035 von Ludwig XIV. – in der Poetik aus. Noch weithin zeigt sich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/18
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/18>, abgerufen am 21.11.2024.