Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_182.001 "Seht, welch Unrecht ich erdulde!" pwo_182.006Dennoch zeigt sich gerade Aeschylos bemüht, den im Volksglauben pwo_182.007 "Es soll von nun an unter Schleiern nicht hervor pwo_182.024
Die Verheißung blicken gleich der neuvermählten Braut; pwo_182.025 Ein heller Frühwind wird sie wach, dahinzuwehn pwo_182.026 Gen Sonnenaufgang, und es rauscht wie Meeresflut pwo_182.027 Bei dieser Blutschuld erstem Strahl gewaltiger pwo_182.028 Empor! Verkünden will ich nicht in Rätseln mehr, pwo_182.029 Und seid mir Zeuge, daß ich, jeder Spur gewiß, pwo_182.030 Des allverübten Frevels Fährte wittere. pwo_182.031 Denn dieses Haus läßt nimmermehr des Chors Gesang, pwo_182.032 Der, laut und doch mißlautig, Frohes nimmer singt. pwo_182.033 Denn, voll und trunken bis zum frechsten Uebermut pwo_182.034 Vom Menschenblut, tobt durch das Haus ein Trinkgelag pwo_182.035 Der Erinnyen schwergebannter, blutsverwandter Schwarm; pwo_182.036 Jhr gellend Trinklied singen sie an den Herd geschart, pwo_182.037 Urerste Blutschuld, schmähen und verfluchen dann pwo_182.038 Des Bruders Ehbett, das den Schänder niederschlug!" pwo_182.001 „Seht, welch Unrecht ich erdulde!“ pwo_182.006Dennoch zeigt sich gerade Aeschylos bemüht, den im Volksglauben pwo_182.007 „Es soll von nun an unter Schleiern nicht hervor pwo_182.024
Die Verheißung blicken gleich der neuvermählten Braut; pwo_182.025 Ein heller Frühwind wird sie wach, dahinzuwehn pwo_182.026 Gen Sonnenaufgang, und es rauscht wie Meeresflut pwo_182.027 Bei dieser Blutschuld erstem Strahl gewaltiger pwo_182.028 Empor! Verkünden will ich nicht in Rätseln mehr, pwo_182.029 Und seid mir Zeuge, daß ich, jeder Spur gewiß, pwo_182.030 Des allverübten Frevels Fährte wittere. pwo_182.031 Denn dieses Haus läßt nimmermehr des Chors Gesang, pwo_182.032 Der, laut und doch mißlautig, Frohes nimmer singt. pwo_182.033 Denn, voll und trunken bis zum frechsten Uebermut pwo_182.034 Vom Menschenblut, tobt durch das Haus ein Trinkgelag pwo_182.035 Der Erinnyen schwergebannter, blutsverwandter Schwarm; pwo_182.036 Jhr gellend Trinklied singen sie an den Herd geschart, pwo_182.037 Urerste Blutschuld, schmähen und verfluchen dann pwo_182.038 Des Bruders Ehbett, das den Schänder niederschlug!“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0196" n="182"/><lb n="pwo_182.001"/> daß damit die Motivierung aus den individuellen Charakteren unterbunden <lb n="pwo_182.002"/> ist: der Mensch geht seinem Verhängnis entgegen in der That <lb n="pwo_182.003"/> wie der Opferstier zum Altar geführt wird. Ausdrücklich ruft der <lb n="pwo_182.004"/> versinkende Prometheus:</p> <lb n="pwo_182.005"/> <lg> <l>„Seht, welch Unrecht ich erdulde!“</l> </lg> <lb n="pwo_182.006"/> <p>Dennoch zeigt sich gerade Aeschylos bemüht, den im Volksglauben <lb n="pwo_182.007"/> wurzelnden blinden Fatalismus seiner Stoffe durch eine gewisse psychologische <lb n="pwo_182.008"/> Ergründung zu überwinden; nur ist seine Motivierung nicht <lb n="pwo_182.009"/> individuell, sondern faßt in großen Zügen ganze Geschlechter, ja wohl <lb n="pwo_182.010"/> ganze Völker oder gar die Menschheit zusammen: deren Sündigkeit, <lb n="pwo_182.011"/> deren dämonische Wildheit fordert das Walten des Schicksals heraus. <lb n="pwo_182.012"/> Bleibt auch die Handlung der Einzeltragödie im allgemeinen auf die <lb n="pwo_182.013"/> Heraushebung einer Einzelkatastrophe beschränkt, so deuten doch Betrachtungen <lb n="pwo_182.014"/> namentlich des Chors auf den Zusammenhang mit eben <lb n="pwo_182.015"/> verhängnisvollen früheren Geschehnissen. Diesen unmittelbar durch <lb n="pwo_182.016"/> Handlung zu versinnbildlichen und so eine Beziehung zwischen den <lb n="pwo_182.017"/> Thaten oder Charakteren und dem Verhängnis herzustellen, wurde <lb n="pwo_182.018"/> nun vor allem durch die Aneinandergliederung dreier Tragödien desselben <lb n="pwo_182.019"/> Mythen-, Sagen- oder Geschichtskreises ermöglicht. Ein unentrinnbares <lb n="pwo_182.020"/> Schicksal waltet – wohl, aber nicht ein blindes, unvernünftiges. <lb n="pwo_182.021"/> Verkündet doch gerade Kassandra diese zermalmende und <lb n="pwo_182.022"/> doch erhebende Botschaft:</p> <lb n="pwo_182.023"/> <lg> <l>„Es soll von nun an unter Schleiern nicht hervor</l> <lb n="pwo_182.024"/> <l>Die Verheißung blicken gleich der neuvermählten Braut;</l> <lb n="pwo_182.025"/> <l>Ein heller Frühwind wird sie wach, dahinzuwehn</l> <lb n="pwo_182.026"/> <l>Gen Sonnenaufgang, und es rauscht wie Meeresflut</l> <lb n="pwo_182.027"/> <l>Bei dieser Blutschuld erstem Strahl gewaltiger</l> <lb n="pwo_182.028"/> <l>Empor! Verkünden will ich nicht in Rätseln mehr,</l> <lb n="pwo_182.029"/> <l>Und seid mir Zeuge, daß ich, jeder Spur gewiß,</l> <lb n="pwo_182.030"/> <l>Des allverübten Frevels Fährte wittere.</l> <lb n="pwo_182.031"/> <l>Denn dieses Haus läßt nimmermehr des Chors Gesang,</l> <lb n="pwo_182.032"/> <l>Der, laut und doch mißlautig, Frohes nimmer singt.</l> <lb n="pwo_182.033"/> <l>Denn, voll und trunken bis zum frechsten Uebermut</l> <lb n="pwo_182.034"/> <l>Vom Menschenblut, tobt durch das Haus ein Trinkgelag</l> <lb n="pwo_182.035"/> <l>Der Erinnyen schwergebannter, blutsverwandter Schwarm;</l> <lb n="pwo_182.036"/> <l>Jhr gellend Trinklied singen sie an den Herd geschart,</l> <lb n="pwo_182.037"/> <l>Urerste Blutschuld, schmähen und verfluchen dann</l> <lb n="pwo_182.038"/> <l>Des Bruders Ehbett, das den Schänder niederschlug!“</l> </lg> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [182/0196]
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daß damit die Motivierung aus den individuellen Charakteren unterbunden pwo_182.002
ist: der Mensch geht seinem Verhängnis entgegen in der That pwo_182.003
wie der Opferstier zum Altar geführt wird. Ausdrücklich ruft der pwo_182.004
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„Seht, welch Unrecht ich erdulde!“
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Dennoch zeigt sich gerade Aeschylos bemüht, den im Volksglauben pwo_182.007
wurzelnden blinden Fatalismus seiner Stoffe durch eine gewisse psychologische pwo_182.008
Ergründung zu überwinden; nur ist seine Motivierung nicht pwo_182.009
individuell, sondern faßt in großen Zügen ganze Geschlechter, ja wohl pwo_182.010
ganze Völker oder gar die Menschheit zusammen: deren Sündigkeit, pwo_182.011
deren dämonische Wildheit fordert das Walten des Schicksals heraus. pwo_182.012
Bleibt auch die Handlung der Einzeltragödie im allgemeinen auf die pwo_182.013
Heraushebung einer Einzelkatastrophe beschränkt, so deuten doch Betrachtungen pwo_182.014
namentlich des Chors auf den Zusammenhang mit eben pwo_182.015
verhängnisvollen früheren Geschehnissen. Diesen unmittelbar durch pwo_182.016
Handlung zu versinnbildlichen und so eine Beziehung zwischen den pwo_182.017
Thaten oder Charakteren und dem Verhängnis herzustellen, wurde pwo_182.018
nun vor allem durch die Aneinandergliederung dreier Tragödien desselben pwo_182.019
Mythen-, Sagen- oder Geschichtskreises ermöglicht. Ein unentrinnbares pwo_182.020
Schicksal waltet – wohl, aber nicht ein blindes, unvernünftiges. pwo_182.021
Verkündet doch gerade Kassandra diese zermalmende und pwo_182.022
doch erhebende Botschaft:
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„Es soll von nun an unter Schleiern nicht hervor pwo_182.024
Die Verheißung blicken gleich der neuvermählten Braut; pwo_182.025
Ein heller Frühwind wird sie wach, dahinzuwehn pwo_182.026
Gen Sonnenaufgang, und es rauscht wie Meeresflut pwo_182.027
Bei dieser Blutschuld erstem Strahl gewaltiger pwo_182.028
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Denn dieses Haus läßt nimmermehr des Chors Gesang, pwo_182.032
Der, laut und doch mißlautig, Frohes nimmer singt. pwo_182.033
Denn, voll und trunken bis zum frechsten Uebermut pwo_182.034
Vom Menschenblut, tobt durch das Haus ein Trinkgelag pwo_182.035
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Jhr gellend Trinklied singen sie an den Herd geschart, pwo_182.037
Urerste Blutschuld, schmähen und verfluchen dann pwo_182.038
Des Bruders Ehbett, das den Schänder niederschlug!“
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Zitationshilfe: | Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/196>, abgerufen am 16.02.2025. |