pwo_260.001 dringt durch. Die Bedeutsamkeit dieser neuen poetischen Wendung pwo_260.002 dürfen wir nicht unterschätzen; sagt doch Goethe geradezu,
pwo_260.003
"Höchstes Glück der Erdenkinderpwo_260.004 Sei nur die Persönlichkeit."
pwo_260.005
Zu seiner weiteren Vertiefung und Bereicherung strebt der Dichtergeist pwo_260.006 schließlich vom eigenen Jch dem Geist der andern zu, mit denen pwo_260.007 zu leiden, an ihnen sich zu freuen. So ergänzt sich das Selbstbewußtsein pwo_260.008 in glücklichster Weise durch Selbstentäußerung. Zu dem pwo_260.009 weihevollen Beschauen der Gottheit, der Vorfahren und der eigenen pwo_260.010 Seele tritt weihevolle Mitempfindung mit dem Leben der pwo_260.011 andern. Nach allen räumlichen und zeitlichen Dimensionen hat der pwo_260.012 Dichter somit Weihe in die Herzen der Menschheit gegossen.
pwo_260.013
Verehrung für die Götter und Heroen schließt sich im antiken pwo_260.014 Sinne als Pietät zusammen. Selbstbewußtsein und Selbstentäußerung, pwo_260.015 Ausleben der vollen Persönlichkeit und dennoch "daß sie sich pwo_260.016 ganz vergißt und leben mag nur in andern" vereint sich zu dem Gefühl, pwo_260.017 das seit der Antike als Humanität gilt. Die Dichterseele hat pwo_260.018 der Menschheit das Höchste gegeben, indem sie ihr Religion und Geschichte, pwo_260.019 Selbstbewußtsein und Selbstentäußerung - indem sie ihr pwo_260.020 Pietät und Humanität vermittelte.
pwo_260.021
§ 106. pwo_260.022 Rückblick und Ausblick.
pwo_260.023
Unser Rekognoszierungszug durch die Geschichte der Weltpoesie pwo_260.024 ist vollendet: wir stehen am Ziel.
pwo_260.025
Dürfen wir über dasselbe hinaus in die Zukunft der Poesie pwo_260.026 blicken? Manche Zeichen des Niedergangs könnten Kleingläubige befürchten pwo_260.027 lassen, daß wir am Ende aller Enden der Poesie stehen. pwo_260.028 Wir aber, die wir von einer Wanderung zurückkehren, auf welcher pwo_260.029 uns die Poesie durch die Gesamtentwicklung des menschlichen Geistes pwo_260.030 als Führerin und Bahnweiserin entgegentrat, wir dürfen die Zuversicht pwo_260.031 hegen, daß der Dichtung letzter Ton nicht früher verhallt, als pwo_260.032 das menschliche Gemüt sich des Bedürfnisses entäußert, dem Göttlichen pwo_260.033 über uns wie den Heroen vor uns sich verehrend zu nahen, sich pwo_260.034 weihevoll in die eigene Seele zu vertiefen und nach Hingabe an die pwo_260.035 Menschheit zu streben.
pwo_260.001 dringt durch. Die Bedeutsamkeit dieser neuen poetischen Wendung pwo_260.002 dürfen wir nicht unterschätzen; sagt doch Goethe geradezu,
pwo_260.003
„Höchstes Glück der Erdenkinderpwo_260.004 Sei nur die Persönlichkeit.“
pwo_260.005
Zu seiner weiteren Vertiefung und Bereicherung strebt der Dichtergeist pwo_260.006 schließlich vom eigenen Jch dem Geist der andern zu, mit denen pwo_260.007 zu leiden, an ihnen sich zu freuen. So ergänzt sich das Selbstbewußtsein pwo_260.008 in glücklichster Weise durch Selbstentäußerung. Zu dem pwo_260.009 weihevollen Beschauen der Gottheit, der Vorfahren und der eigenen pwo_260.010 Seele tritt weihevolle Mitempfindung mit dem Leben der pwo_260.011 andern. Nach allen räumlichen und zeitlichen Dimensionen hat der pwo_260.012 Dichter somit Weihe in die Herzen der Menschheit gegossen.
pwo_260.013
Verehrung für die Götter und Heroen schließt sich im antiken pwo_260.014 Sinne als Pietät zusammen. Selbstbewußtsein und Selbstentäußerung, pwo_260.015 Ausleben der vollen Persönlichkeit und dennoch „daß sie sich pwo_260.016 ganz vergißt und leben mag nur in andern“ vereint sich zu dem Gefühl, pwo_260.017 das seit der Antike als Humanität gilt. Die Dichterseele hat pwo_260.018 der Menschheit das Höchste gegeben, indem sie ihr Religion und Geschichte, pwo_260.019 Selbstbewußtsein und Selbstentäußerung – indem sie ihr pwo_260.020 Pietät und Humanität vermittelte.
pwo_260.021
§ 106. pwo_260.022 Rückblick und Ausblick.
pwo_260.023
Unser Rekognoszierungszug durch die Geschichte der Weltpoesie pwo_260.024 ist vollendet: wir stehen am Ziel.
pwo_260.025
Dürfen wir über dasselbe hinaus in die Zukunft der Poesie pwo_260.026 blicken? Manche Zeichen des Niedergangs könnten Kleingläubige befürchten pwo_260.027 lassen, daß wir am Ende aller Enden der Poesie stehen. pwo_260.028 Wir aber, die wir von einer Wanderung zurückkehren, auf welcher pwo_260.029 uns die Poesie durch die Gesamtentwicklung des menschlichen Geistes pwo_260.030 als Führerin und Bahnweiserin entgegentrat, wir dürfen die Zuversicht pwo_260.031 hegen, daß der Dichtung letzter Ton nicht früher verhallt, als pwo_260.032 das menschliche Gemüt sich des Bedürfnisses entäußert, dem Göttlichen pwo_260.033 über uns wie den Heroen vor uns sich verehrend zu nahen, sich pwo_260.034 weihevoll in die eigene Seele zu vertiefen und nach Hingabe an die pwo_260.035 Menschheit zu streben.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0274"n="260"/><lbn="pwo_260.001"/>
dringt durch. Die Bedeutsamkeit dieser neuen poetischen Wendung <lbn="pwo_260.002"/>
dürfen wir nicht unterschätzen; sagt doch Goethe geradezu,</p><lbn="pwo_260.003"/><lg><l>„Höchstes Glück der Erdenkinder</l><lbn="pwo_260.004"/><l>Sei nur die <hirendition="#g">Persönlichkeit</hi>.“</l></lg><lbn="pwo_260.005"/><p>Zu seiner weiteren Vertiefung und Bereicherung strebt der Dichtergeist <lbn="pwo_260.006"/>
schließlich vom eigenen Jch dem Geist der andern zu, mit denen <lbn="pwo_260.007"/>
zu leiden, an ihnen sich zu freuen. So ergänzt sich das Selbstbewußtsein <lbn="pwo_260.008"/>
in glücklichster Weise durch <hirendition="#g">Selbstentäußerung.</hi> Zu dem <lbn="pwo_260.009"/>
weihevollen Beschauen der Gottheit, der Vorfahren und der eigenen <lbn="pwo_260.010"/>
Seele tritt <hirendition="#g">weihevolle Mitempfindung mit dem Leben der <lbn="pwo_260.011"/>
andern.</hi> Nach allen räumlichen und zeitlichen Dimensionen hat der <lbn="pwo_260.012"/>
Dichter somit Weihe in die Herzen der Menschheit gegossen.</p><lbn="pwo_260.013"/><p> Verehrung für die Götter und Heroen schließt sich im antiken <lbn="pwo_260.014"/>
Sinne als <hirendition="#g">Pietät</hi> zusammen. Selbstbewußtsein und Selbstentäußerung, <lbn="pwo_260.015"/>
Ausleben der vollen Persönlichkeit und dennoch „daß sie sich <lbn="pwo_260.016"/>
ganz vergißt und leben mag nur in andern“ vereint sich zu dem Gefühl, <lbn="pwo_260.017"/>
das seit der Antike als <hirendition="#g">Humanität</hi> gilt. Die Dichterseele hat <lbn="pwo_260.018"/>
der Menschheit das Höchste gegeben, indem sie ihr Religion und Geschichte, <lbn="pwo_260.019"/>
Selbstbewußtsein und Selbstentäußerung – indem sie ihr <lbn="pwo_260.020"/>
Pietät und Humanität vermittelte.</p></div><divn="3"><lbn="pwo_260.021"/><head><hirendition="#c">§ 106. <lbn="pwo_260.022"/>
Rückblick und Ausblick.</hi></head><lbn="pwo_260.023"/><p> Unser Rekognoszierungszug durch die Geschichte der Weltpoesie <lbn="pwo_260.024"/>
ist vollendet: wir stehen am Ziel.</p><lbn="pwo_260.025"/><p> Dürfen wir über dasselbe hinaus in die Zukunft der Poesie <lbn="pwo_260.026"/>
blicken? Manche Zeichen des Niedergangs könnten Kleingläubige befürchten <lbn="pwo_260.027"/>
lassen, daß wir am Ende aller Enden der Poesie stehen. <lbn="pwo_260.028"/>
Wir aber, die wir von einer Wanderung zurückkehren, auf welcher <lbn="pwo_260.029"/>
uns die Poesie durch die Gesamtentwicklung des menschlichen Geistes <lbn="pwo_260.030"/>
als Führerin und Bahnweiserin entgegentrat, wir dürfen die Zuversicht <lbn="pwo_260.031"/>
hegen, daß der Dichtung letzter Ton nicht früher verhallt, als <lbn="pwo_260.032"/>
das menschliche Gemüt sich des Bedürfnisses entäußert, dem Göttlichen <lbn="pwo_260.033"/>
über uns wie den Heroen vor uns sich verehrend zu nahen, sich <lbn="pwo_260.034"/>
weihevoll in die eigene Seele zu vertiefen und nach Hingabe an die <lbn="pwo_260.035"/>
Menschheit zu streben.</p></div></div></div></body></text></TEI>
[260/0274]
pwo_260.001
dringt durch. Die Bedeutsamkeit dieser neuen poetischen Wendung pwo_260.002
dürfen wir nicht unterschätzen; sagt doch Goethe geradezu,
pwo_260.003
„Höchstes Glück der Erdenkinder pwo_260.004
Sei nur die Persönlichkeit.“
pwo_260.005
Zu seiner weiteren Vertiefung und Bereicherung strebt der Dichtergeist pwo_260.006
schließlich vom eigenen Jch dem Geist der andern zu, mit denen pwo_260.007
zu leiden, an ihnen sich zu freuen. So ergänzt sich das Selbstbewußtsein pwo_260.008
in glücklichster Weise durch Selbstentäußerung. Zu dem pwo_260.009
weihevollen Beschauen der Gottheit, der Vorfahren und der eigenen pwo_260.010
Seele tritt weihevolle Mitempfindung mit dem Leben der pwo_260.011
andern. Nach allen räumlichen und zeitlichen Dimensionen hat der pwo_260.012
Dichter somit Weihe in die Herzen der Menschheit gegossen.
pwo_260.013
Verehrung für die Götter und Heroen schließt sich im antiken pwo_260.014
Sinne als Pietät zusammen. Selbstbewußtsein und Selbstentäußerung, pwo_260.015
Ausleben der vollen Persönlichkeit und dennoch „daß sie sich pwo_260.016
ganz vergißt und leben mag nur in andern“ vereint sich zu dem Gefühl, pwo_260.017
das seit der Antike als Humanität gilt. Die Dichterseele hat pwo_260.018
der Menschheit das Höchste gegeben, indem sie ihr Religion und Geschichte, pwo_260.019
Selbstbewußtsein und Selbstentäußerung – indem sie ihr pwo_260.020
Pietät und Humanität vermittelte.
pwo_260.021
§ 106. pwo_260.022
Rückblick und Ausblick. pwo_260.023
Unser Rekognoszierungszug durch die Geschichte der Weltpoesie pwo_260.024
ist vollendet: wir stehen am Ziel.
pwo_260.025
Dürfen wir über dasselbe hinaus in die Zukunft der Poesie pwo_260.026
blicken? Manche Zeichen des Niedergangs könnten Kleingläubige befürchten pwo_260.027
lassen, daß wir am Ende aller Enden der Poesie stehen. pwo_260.028
Wir aber, die wir von einer Wanderung zurückkehren, auf welcher pwo_260.029
uns die Poesie durch die Gesamtentwicklung des menschlichen Geistes pwo_260.030
als Führerin und Bahnweiserin entgegentrat, wir dürfen die Zuversicht pwo_260.031
hegen, daß der Dichtung letzter Ton nicht früher verhallt, als pwo_260.032
das menschliche Gemüt sich des Bedürfnisses entäußert, dem Göttlichen pwo_260.033
über uns wie den Heroen vor uns sich verehrend zu nahen, sich pwo_260.034
weihevoll in die eigene Seele zu vertiefen und nach Hingabe an die pwo_260.035
Menschheit zu streben.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/274>, abgerufen am 27.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.