Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_022.001 Jm allgemeinen beginnen wir selbständig zu lesen, um den pwo_022.002 "Wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch." pwo_022.008Die erste Regung der Kritik im halbgebildeten Geist äußert sich durch pwo_022.009 Unschwer ergeben sich aus solchen noch heute in Auffassung der pwo_022.017 pwo_022.025 § 20. pwo_022.026 pwo_022.027Verhältnis der poetischen Gattungen. Ueberblicken wir heute die Poesie, so bietet sich uns eine Fülle pwo_022.028 Auch wenn wir zunächst von dem Urquell aller Poesie absehen, pwo_022.033 pwo_022.001 Jm allgemeinen beginnen wir selbständig zu lesen, um den pwo_022.002 „Wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch.“ pwo_022.008Die erste Regung der Kritik im halbgebildeten Geist äußert sich durch pwo_022.009 Unschwer ergeben sich aus solchen noch heute in Auffassung der pwo_022.017 pwo_022.025 § 20. pwo_022.026 pwo_022.027Verhältnis der poetischen Gattungen. Ueberblicken wir heute die Poesie, so bietet sich uns eine Fülle pwo_022.028 Auch wenn wir zunächst von dem Urquell aller Poesie absehen, pwo_022.033 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0036" n="22"/> <lb n="pwo_022.001"/> <p> Jm allgemeinen beginnen wir selbständig zu lesen, um den <lb n="pwo_022.002"/> interessanten Jnhalt, den Stoff, die „Geschichte“ kennen zu lernen. <lb n="pwo_022.003"/> Daneben sucht man eine Nahrung für das Gefühlsleben. Weiter <lb n="pwo_022.004"/> gelangen namentlich Ungebildete selten. Sobald man eigene Anforderungen <lb n="pwo_022.005"/> stellt, verlangt der größte Teil des Publikums, was schon <lb n="pwo_022.006"/> die Xenien zur Zielscheibe berechtigten Spottes nehmen:</p> <lb n="pwo_022.007"/> <lg> <l>„Wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch.“</l> </lg> <lb n="pwo_022.008"/> <p>Die erste Regung der Kritik im halbgebildeten Geist äußert sich durch <lb n="pwo_022.009"/> die Neigung, den Jnhalt auf seine Wahrscheinlichkeit zu prüfen. Eine <lb n="pwo_022.010"/> weitere Alters- und Bildungsstufe erwartet wohl, daß die Tendenzen <lb n="pwo_022.011"/> der Tagesströmung zur Aussprache gelangen u. s. f. Erst der voll <lb n="pwo_022.012"/> ausgereifte Geist von geschlossener Bildung und Lebenserfahrung vermag <lb n="pwo_022.013"/> den vollen Gehalt der humanistischen Dichtung auszuschöpfen – <lb n="pwo_022.014"/> wie z. B. von Berthold Auerbach das bezeichnende Wort „goethereif“ <lb n="pwo_022.015"/> geprägt wurde.</p> <lb n="pwo_022.016"/> <p> Unschwer ergeben sich aus solchen noch heute in Auffassung der <lb n="pwo_022.017"/> Poesie hervortretenden Verschiedenheiten Parallelen zu der Variation, <lb n="pwo_022.018"/> die wir im Laufe der geschichtlichen Entwicklung obwalten sahen. <lb n="pwo_022.019"/> Jedenfalls wird unwiderleglich, daß die Poesie – so gewiß ihr ein <lb n="pwo_022.020"/> einheitliches Wesen zugrunde liegen muß – zu verschiedenen Zeiten <lb n="pwo_022.021"/> verschieden aufgefaßt wurde und noch heute von verschiedenen Personen <lb n="pwo_022.022"/> verschieden aufgefaßt wird. Allgemeingültige Gesetze werden <lb n="pwo_022.023"/> sich nur durch Berücksichtigung der sich vollziehenden Entwicklungen <lb n="pwo_022.024"/> und Umbildungen gewinnen lassen.</p> </div> <div n="3"> <lb n="pwo_022.025"/> <head> <hi rendition="#c">§ 20. <lb n="pwo_022.026"/> Verhältnis der poetischen Gattungen.</hi> </head> <lb n="pwo_022.027"/> <p> Ueberblicken wir heute die Poesie, so bietet sich uns eine Fülle <lb n="pwo_022.028"/> poetischer Gattungen dar. Eine ungeschichtliche Auffassung könnte zu <lb n="pwo_022.029"/> der Voraussetzung verleiten, sie wären stets in gleicher Mannigfaltigkeit <lb n="pwo_022.030"/> vorhanden gewesen und hätten stets denselben Charakter an sich <lb n="pwo_022.031"/> getragen.</p> <lb n="pwo_022.032"/> <p> Auch wenn wir zunächst von dem Urquell aller Poesie absehen, <lb n="pwo_022.033"/> weil er in einen nicht mit voller Klarheit durchdringlichen Nebel gehüllt <lb n="pwo_022.034"/> ist, – auch wenn wir unsern Blick nur zu den ältesten Zeiten </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [22/0036]
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Jm allgemeinen beginnen wir selbständig zu lesen, um den pwo_022.002
interessanten Jnhalt, den Stoff, die „Geschichte“ kennen zu lernen. pwo_022.003
Daneben sucht man eine Nahrung für das Gefühlsleben. Weiter pwo_022.004
gelangen namentlich Ungebildete selten. Sobald man eigene Anforderungen pwo_022.005
stellt, verlangt der größte Teil des Publikums, was schon pwo_022.006
die Xenien zur Zielscheibe berechtigten Spottes nehmen:
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„Wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch.“
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Die erste Regung der Kritik im halbgebildeten Geist äußert sich durch pwo_022.009
die Neigung, den Jnhalt auf seine Wahrscheinlichkeit zu prüfen. Eine pwo_022.010
weitere Alters- und Bildungsstufe erwartet wohl, daß die Tendenzen pwo_022.011
der Tagesströmung zur Aussprache gelangen u. s. f. Erst der voll pwo_022.012
ausgereifte Geist von geschlossener Bildung und Lebenserfahrung vermag pwo_022.013
den vollen Gehalt der humanistischen Dichtung auszuschöpfen – pwo_022.014
wie z. B. von Berthold Auerbach das bezeichnende Wort „goethereif“ pwo_022.015
geprägt wurde.
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Unschwer ergeben sich aus solchen noch heute in Auffassung der pwo_022.017
Poesie hervortretenden Verschiedenheiten Parallelen zu der Variation, pwo_022.018
die wir im Laufe der geschichtlichen Entwicklung obwalten sahen. pwo_022.019
Jedenfalls wird unwiderleglich, daß die Poesie – so gewiß ihr ein pwo_022.020
einheitliches Wesen zugrunde liegen muß – zu verschiedenen Zeiten pwo_022.021
verschieden aufgefaßt wurde und noch heute von verschiedenen Personen pwo_022.022
verschieden aufgefaßt wird. Allgemeingültige Gesetze werden pwo_022.023
sich nur durch Berücksichtigung der sich vollziehenden Entwicklungen pwo_022.024
und Umbildungen gewinnen lassen.
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Verhältnis der poetischen Gattungen. pwo_022.027
Ueberblicken wir heute die Poesie, so bietet sich uns eine Fülle pwo_022.028
poetischer Gattungen dar. Eine ungeschichtliche Auffassung könnte zu pwo_022.029
der Voraussetzung verleiten, sie wären stets in gleicher Mannigfaltigkeit pwo_022.030
vorhanden gewesen und hätten stets denselben Charakter an sich pwo_022.031
getragen.
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Auch wenn wir zunächst von dem Urquell aller Poesie absehen, pwo_022.033
weil er in einen nicht mit voller Klarheit durchdringlichen Nebel gehüllt pwo_022.034
ist, – auch wenn wir unsern Blick nur zu den ältesten Zeiten
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