Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_023.001 Daß sie nach einander entstanden, läßt sich wenigstens für das pwo_023.009 Noch ist die poetische Empfindung nicht subjektiv, noch vermag pwo_023.016 1. Sie ist nicht subjektiv: denn noch geht der Einzelne in der pwo_023.018 An unserer deutschen Poesie betont das erste darüber vorliegende pwo_023.025 pwo_023.001 Daß sie nach einander entstanden, läßt sich wenigstens für das pwo_023.009 Noch ist die poetische Empfindung nicht subjektiv, noch vermag pwo_023.016 1. Sie ist nicht subjektiv: denn noch geht der Einzelne in der pwo_023.018 An unserer deutschen Poesie betont das erste darüber vorliegende pwo_023.025 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0037" n="23"/><lb n="pwo_023.001"/> zurückschweifen lassen, die uns geschichtlich erreichbar sind, suchen wir <lb n="pwo_023.002"/> vergebens den heutigen Reichtum poetischer Formen oder Gattungen. <lb n="pwo_023.003"/> Vielmehr läßt sich bei allen nicht von außen beeinflußten Völkern <lb n="pwo_023.004"/> zunächst nur eine gleichartige, höchst einfache, in jedem Sinne einförmige <lb n="pwo_023.005"/> Poesie erkennen. Sofort wird die Ueberzeugung unabweisbar: <lb n="pwo_023.006"/> <hi rendition="#g">die poetischen Gattungen bestanden nicht von vorn <lb n="pwo_023.007"/> herein neben einander.</hi></p> <lb n="pwo_023.008"/> <p> Daß sie <hi rendition="#g">nach</hi> einander entstanden, läßt sich wenigstens für das <lb n="pwo_023.009"/> Drama bei den hervorragendsten Kulturvölkern im vollen Licht der <lb n="pwo_023.010"/> Geschichte beobachten. Aber auch eine subjektive Lyrik können wir in <lb n="pwo_023.011"/> selbständiger Entfaltung für die ältesten erreichbaren Zeiten geschichtlich <lb n="pwo_023.012"/> nicht nachweisen. Freilich dürfte nun auch von epischer Dichtung <lb n="pwo_023.013"/> im heutigen Sinne kaum die Rede sein; aber <hi rendition="#g">konkreter, objektiver</hi> <lb n="pwo_023.014"/> Charakter herrscht grundsätzlich vor.</p> <lb n="pwo_023.015"/> <p> Noch ist die poetische Empfindung nicht subjektiv, noch vermag <lb n="pwo_023.016"/> sie sich nicht in abstrakten Wendungen auszusprechen.</p> <lb n="pwo_023.017"/> <p> 1. Sie ist nicht subjektiv: denn noch geht der Einzelne in der <lb n="pwo_023.018"/> Masse auf, seiner Jndividualität wird er sich nicht bewußt, ja sie ist <lb n="pwo_023.019"/> geistig nur im bescheidensten Maße vorhanden. Aber wäre die Jndividualität <lb n="pwo_023.020"/> selbst bewußter ausgebildet, sie käme nicht zur Geltung, <lb n="pwo_023.021"/> weil garnicht der Einzelne, sondern die Masse spricht. Das uns <lb n="pwo_023.022"/> bekannte poesiegeschichtliche Material nötigt zu der Annahme, daß die <lb n="pwo_023.023"/> älteste Dichtung chorartigen Charakter trug.</p> <lb n="pwo_023.024"/> <p> An unserer deutschen Poesie betont das erste darüber vorliegende <lb n="pwo_023.025"/> Zeugnis, die <hi rendition="#aq">Germania</hi> des Tacitus, ausdrücklich diese Eigenschaft: <lb n="pwo_023.026"/> gemeinsam sangen die alten Germanen sowohl vor der Schlacht wie <lb n="pwo_023.027"/> beim Mahle. Besonders hebt er Lieder hervor, durch deren Vortrag <lb n="pwo_023.028"/> sie den Mut anfeuern und den Ausgang des bevorstehenden Kampfes <lb n="pwo_023.029"/> aus dem Gesange selbst vorausdeuten. Ebenso wenig läßt der Vortrag <lb n="pwo_023.030"/> der religiösen Gesänge, die auch für die älteste deutsche und <lb n="pwo_023.031"/> griechische Dichtung bezeugt sind, subjektive Elemente zu. Wie aus <lb n="pwo_023.032"/> den ersten poetischen Denkmälern der orientalischen Poesien erschließbar, <lb n="pwo_023.033"/> wie es auch jedem späteren Kultusgesang natürlich, spricht diese <lb n="pwo_023.034"/> Poesie aus den Empfindungen der gesamten Gemeinde heraus, gleichviel <lb n="pwo_023.035"/> ob dieser selbst der Gesang zugeteilt ist oder aber der Priester <lb n="pwo_023.036"/> sich an sie wendet, um ihre Herzen zur Gottheit zu erheben.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [23/0037]
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zurückschweifen lassen, die uns geschichtlich erreichbar sind, suchen wir pwo_023.002
vergebens den heutigen Reichtum poetischer Formen oder Gattungen. pwo_023.003
Vielmehr läßt sich bei allen nicht von außen beeinflußten Völkern pwo_023.004
zunächst nur eine gleichartige, höchst einfache, in jedem Sinne einförmige pwo_023.005
Poesie erkennen. Sofort wird die Ueberzeugung unabweisbar: pwo_023.006
die poetischen Gattungen bestanden nicht von vorn pwo_023.007
herein neben einander.
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Daß sie nach einander entstanden, läßt sich wenigstens für das pwo_023.009
Drama bei den hervorragendsten Kulturvölkern im vollen Licht der pwo_023.010
Geschichte beobachten. Aber auch eine subjektive Lyrik können wir in pwo_023.011
selbständiger Entfaltung für die ältesten erreichbaren Zeiten geschichtlich pwo_023.012
nicht nachweisen. Freilich dürfte nun auch von epischer Dichtung pwo_023.013
im heutigen Sinne kaum die Rede sein; aber konkreter, objektiver pwo_023.014
Charakter herrscht grundsätzlich vor.
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Noch ist die poetische Empfindung nicht subjektiv, noch vermag pwo_023.016
sie sich nicht in abstrakten Wendungen auszusprechen.
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1. Sie ist nicht subjektiv: denn noch geht der Einzelne in der pwo_023.018
Masse auf, seiner Jndividualität wird er sich nicht bewußt, ja sie ist pwo_023.019
geistig nur im bescheidensten Maße vorhanden. Aber wäre die Jndividualität pwo_023.020
selbst bewußter ausgebildet, sie käme nicht zur Geltung, pwo_023.021
weil garnicht der Einzelne, sondern die Masse spricht. Das uns pwo_023.022
bekannte poesiegeschichtliche Material nötigt zu der Annahme, daß die pwo_023.023
älteste Dichtung chorartigen Charakter trug.
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An unserer deutschen Poesie betont das erste darüber vorliegende pwo_023.025
Zeugnis, die Germania des Tacitus, ausdrücklich diese Eigenschaft: pwo_023.026
gemeinsam sangen die alten Germanen sowohl vor der Schlacht wie pwo_023.027
beim Mahle. Besonders hebt er Lieder hervor, durch deren Vortrag pwo_023.028
sie den Mut anfeuern und den Ausgang des bevorstehenden Kampfes pwo_023.029
aus dem Gesange selbst vorausdeuten. Ebenso wenig läßt der Vortrag pwo_023.030
der religiösen Gesänge, die auch für die älteste deutsche und pwo_023.031
griechische Dichtung bezeugt sind, subjektive Elemente zu. Wie aus pwo_023.032
den ersten poetischen Denkmälern der orientalischen Poesien erschließbar, pwo_023.033
wie es auch jedem späteren Kultusgesang natürlich, spricht diese pwo_023.034
Poesie aus den Empfindungen der gesamten Gemeinde heraus, gleichviel pwo_023.035
ob dieser selbst der Gesang zugeteilt ist oder aber der Priester pwo_023.036
sich an sie wendet, um ihre Herzen zur Gottheit zu erheben.
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