Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_024.001 2. Die poetische Empfindung vermag sich auch noch nicht abstrakt pwo_024.002 Talvj betont, daß im Volkslied die Braut an der Bahre des pwo_024.008 "Ich stuont mir nehtint spate an einer zinnen; pwo_024.013 pwo_024.016do hort ich einen ritter vil wol singen pwo_024.014 in Kürenberges weise al auz der menigein: pwo_024.015 er muoz mir diu lant raumen, ald ich geniete mich sein." Wir finden hier gegenständliche Erzählung, die nur schließlich lyrisch pwo_024.017 pwo_024.023 § 21. pwo_024.024 pwo_024.025Fortsetzung: Entwicklung. Der spätere Durchbruch von Subjektivität und Abstraktion unter pwo_024.026 Abgerissen, einsilbig rückt das Hildebrandslied die starren Thatsachen pwo_024.029 pwo_024.001 2. Die poetische Empfindung vermag sich auch noch nicht abstrakt pwo_024.002 Talvj betont, daß im Volkslied die Braut an der Bahre des pwo_024.008 „Ich stuont mir nehtint spâte an einer zinnen; pwo_024.013 pwo_024.016dô hôrt ich einen ritter vil wol singen pwo_024.014 in Kürenberges wîse al ûz der menigîn: pwo_024.015 er muoz mir diu lant rûmen, ald ich geniete mich sîn.“ Wir finden hier gegenständliche Erzählung, die nur schließlich lyrisch pwo_024.017 pwo_024.023 § 21. pwo_024.024 pwo_024.025Fortsetzung: Entwicklung. Der spätere Durchbruch von Subjektivität und Abstraktion unter pwo_024.026 Abgerissen, einsilbig rückt das Hildebrandslied die starren Thatsachen pwo_024.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0038" n="24"/> <lb n="pwo_024.001"/> <p> 2. Die poetische Empfindung vermag sich auch noch nicht abstrakt <lb n="pwo_024.002"/> auszusprechen. Jn konkreter Gestaltung veranschaulicht der religiöse <lb n="pwo_024.003"/> Mythos das Walten der Naturmächte; in konkreter Erzählung bewahrt <lb n="pwo_024.004"/> die Sage die nationalen Thaten der Vorzeit. Selbst individuelle <lb n="pwo_024.005"/> Empfindungen, sobald die Zeit für ihre Aussprache reif geworden, <lb n="pwo_024.006"/> leihen zunächst ein konkretes Gewand, eine Art epischer Einkleidung.</p> <lb n="pwo_024.007"/> <p> Talvj betont, daß im Volkslied die Braut an der Bahre des <lb n="pwo_024.008"/> Geliebten die Eigenschaften und Handlungen aufzählt, durch die er <lb n="pwo_024.009"/> sich bei Lebzeiten ausgezeichnet: offenbar will sie durch Vergegenwärtigung <lb n="pwo_024.010"/> seiner Vorzüge sich und andern die Größe ihres Verlustes <lb n="pwo_024.011"/> klar machen. Man vergleiche noch die ältesten deutschen Minnelieder.</p> <lb n="pwo_024.012"/> <lg> <l>„<hi rendition="#aq">Ich stuont mir nehtint spâte an einer zinnen;</hi></l> <lb n="pwo_024.013"/> <l> <hi rendition="#aq">dô hôrt ich einen ritter vil wol singen</hi> </l> <lb n="pwo_024.014"/> <l> <hi rendition="#aq">in Kürenberges wîse al ûz der menigîn:</hi> </l> <lb n="pwo_024.015"/> <l><hi rendition="#aq">er muoz mir diu lant rûmen, ald ich geniete mich sîn</hi>.“</l> </lg> <lb n="pwo_024.016"/> <p>Wir finden hier gegenständliche Erzählung, die nur schließlich lyrisch <lb n="pwo_024.017"/> accentuiert ist. Für die ältesten bekannten Gattungen der griechischen <lb n="pwo_024.018"/> Lyrik steht nicht nur der chorische Vortrag, sondern ebenfalls <lb n="pwo_024.019"/> ein starrer epischer Kern fest, der sich besonders in mythischen Elementen <lb n="pwo_024.020"/> darbietet. Es wird klar: das Gefühl vermag sich zunächst <lb n="pwo_024.021"/> nur an Thatsachen emporzuranken, es kennt keine geistigen Abstraktionen, <lb n="pwo_024.022"/> nur greifbare Eigenschaften und Geschehnisse.</p> </div> <div n="3"> <lb n="pwo_024.023"/> <head> <hi rendition="#c">§ 21. <lb n="pwo_024.024"/> Fortsetzung: Entwicklung.</hi> </head> <lb n="pwo_024.025"/> <p> Der spätere Durchbruch von Subjektivität und Abstraktion unter <lb n="pwo_024.026"/> Abgehen von ursprünglich starrer Gegenständlichkeit wird vor allem <lb n="pwo_024.027"/> durch die Entwicklung der epischen Dichtung selbst klar gespiegelt.</p> <lb n="pwo_024.028"/> <p> Abgerissen, einsilbig rückt das Hildebrandslied die starren Thatsachen <lb n="pwo_024.029"/> in gedrungener Kraft eng an einander; für Reflexionen und <lb n="pwo_024.030"/> Gefühlsausbrüche ist kein Raum. Damit vergleiche man die Gefühlserweichung, <lb n="pwo_024.031"/> die das Nibelungenlied offenbart: wie nicht nur die milden <lb n="pwo_024.032"/> und lieblichen Empfindungen den gigantischen Stoff durchsetzen, <lb n="pwo_024.033"/> nicht nur der Stil der Erzählung von Beschreibungen und Reflexionen <lb n="pwo_024.034"/> durchbrochen ist, sogar die Charaktere ihrer düstern Erhabenheit entkleidet, <lb n="pwo_024.035"/> dem Typus idealer Normalmenschen angeähnelt sind. Und </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [24/0038]
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2. Die poetische Empfindung vermag sich auch noch nicht abstrakt pwo_024.002
auszusprechen. Jn konkreter Gestaltung veranschaulicht der religiöse pwo_024.003
Mythos das Walten der Naturmächte; in konkreter Erzählung bewahrt pwo_024.004
die Sage die nationalen Thaten der Vorzeit. Selbst individuelle pwo_024.005
Empfindungen, sobald die Zeit für ihre Aussprache reif geworden, pwo_024.006
leihen zunächst ein konkretes Gewand, eine Art epischer Einkleidung.
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Talvj betont, daß im Volkslied die Braut an der Bahre des pwo_024.008
Geliebten die Eigenschaften und Handlungen aufzählt, durch die er pwo_024.009
sich bei Lebzeiten ausgezeichnet: offenbar will sie durch Vergegenwärtigung pwo_024.010
seiner Vorzüge sich und andern die Größe ihres Verlustes pwo_024.011
klar machen. Man vergleiche noch die ältesten deutschen Minnelieder.
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„Ich stuont mir nehtint spâte an einer zinnen; pwo_024.013
dô hôrt ich einen ritter vil wol singen pwo_024.014
in Kürenberges wîse al ûz der menigîn: pwo_024.015
er muoz mir diu lant rûmen, ald ich geniete mich sîn.“
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Wir finden hier gegenständliche Erzählung, die nur schließlich lyrisch pwo_024.017
accentuiert ist. Für die ältesten bekannten Gattungen der griechischen pwo_024.018
Lyrik steht nicht nur der chorische Vortrag, sondern ebenfalls pwo_024.019
ein starrer epischer Kern fest, der sich besonders in mythischen Elementen pwo_024.020
darbietet. Es wird klar: das Gefühl vermag sich zunächst pwo_024.021
nur an Thatsachen emporzuranken, es kennt keine geistigen Abstraktionen, pwo_024.022
nur greifbare Eigenschaften und Geschehnisse.
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Fortsetzung: Entwicklung. pwo_024.025
Der spätere Durchbruch von Subjektivität und Abstraktion unter pwo_024.026
Abgehen von ursprünglich starrer Gegenständlichkeit wird vor allem pwo_024.027
durch die Entwicklung der epischen Dichtung selbst klar gespiegelt.
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Abgerissen, einsilbig rückt das Hildebrandslied die starren Thatsachen pwo_024.029
in gedrungener Kraft eng an einander; für Reflexionen und pwo_024.030
Gefühlsausbrüche ist kein Raum. Damit vergleiche man die Gefühlserweichung, pwo_024.031
die das Nibelungenlied offenbart: wie nicht nur die milden pwo_024.032
und lieblichen Empfindungen den gigantischen Stoff durchsetzen, pwo_024.033
nicht nur der Stil der Erzählung von Beschreibungen und Reflexionen pwo_024.034
durchbrochen ist, sogar die Charaktere ihrer düstern Erhabenheit entkleidet, pwo_024.035
dem Typus idealer Normalmenschen angeähnelt sind. Und
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