Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_072.001 Jn seiner Kürze und Gedrungenheit zeigt das Hildebrandslied pwo_072.004 "Ik gihorta dhat seggen", pwo_072.008und zwar pwo_072.009"dhat sih urhettun | aenon muotin pwo_072.010 pwo_072.011Hiltibrant enti Hadhubrant | untar heriun tuem." So sind wir unmittelbar in die Situation eingeführt und erfahren pwo_072.012 Aehnlich läßt sich für die Homer vorangehenden griechischen Volkslieder pwo_072.020 Wohin wir aber auch nach Resten vorlitterarischer Volkspoesie pwo_072.026 Nicht ohne innere Gründe. Jst die Volksdichtung poetische Gestaltung pwo_072.033 pwo_072.001 Jn seiner Kürze und Gedrungenheit zeigt das Hildebrandslied pwo_072.004 „Ik gihôrta dhat seggen“, pwo_072.008und zwar pwo_072.009„dhat sih urhêttun │ ænon muotin pwo_072.010 pwo_072.011Hiltibrant enti Hadhubrant │ untar heriun tuêm.“ So sind wir unmittelbar in die Situation eingeführt und erfahren pwo_072.012 Aehnlich läßt sich für die Homer vorangehenden griechischen Volkslieder pwo_072.020 Wohin wir aber auch nach Resten vorlitterarischer Volkspoesie pwo_072.026 Nicht ohne innere Gründe. Jst die Volksdichtung poetische Gestaltung pwo_072.033 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0086" n="72"/><lb n="pwo_072.001"/> lückenhaft das eine vor, welches Hildebrands Kampf mit seinem <lb n="pwo_072.002"/> Sohn behandelt.</p> <lb n="pwo_072.003"/> <p> Jn seiner Kürze und Gedrungenheit zeigt das Hildebrandslied <lb n="pwo_072.004"/> eine charakteristisch ausgeprägte Darstellungsart. Es repräsentiert schon <lb n="pwo_072.005"/> die Zeit, da ein Einzelsänger die Volksdichtung vorträgt. Aber ausdrücklich <lb n="pwo_072.006"/> beruft er sich auf mündliche Sagenüberlieferung:</p> <lb n="pwo_072.007"/> <p> <lg> <l><hi rendition="#aq">„Ik gihôrta dhat seggen</hi>“,</l> </lg> </p> <lb n="pwo_072.008"/> <p>und zwar</p> <lb n="pwo_072.009"/> <lg> <l>„<hi rendition="#aq">dhat sih urhêttun │ ænon muotin</hi></l> <lb n="pwo_072.010"/> <l><hi rendition="#aq">Hiltibrant enti Hadhubrant │ untar heriun tuêm</hi>.“</l> </lg> <lb n="pwo_072.011"/> <p>So sind wir unmittelbar in die Situation eingeführt und erfahren <lb n="pwo_072.012"/> mit fortgesetzt abgerissenem Lakonismus die (uns bereits in ihrem <lb n="pwo_072.013"/> Abstand von der Geschichte bekannt gewordene) Sagenauffassung von <lb n="pwo_072.014"/> Dietrichs Flucht. Aber nicht mechanisch erzählt wird diese Vorfabel: <lb n="pwo_072.015"/> schon sie wird mit dramatischer Unmittelbarkeit in Dialogform entwickelt, <lb n="pwo_072.016"/> die denn fortgesetzt Trägerin der Darstellung bleibt; nur <lb n="pwo_072.017"/> wenige rein thatsächliche Bemerkungen des Dichters leiten sprunghaft <lb n="pwo_072.018"/> von Rede zu Rede über.</p> <lb n="pwo_072.019"/> <p> Aehnlich läßt sich für die Homer vorangehenden griechischen Volkslieder <lb n="pwo_072.020"/> erschließen, daß sie durchaus auf Kürze angelegt, je ein bedeutsames <lb n="pwo_072.021"/> Einzelereignis aus der Sage herausgriffen, dessen Hauptmomente <lb n="pwo_072.022"/> allein sie energisch bezeichneten, vor allem durch Verkörperung der <lb n="pwo_072.023"/> handelnden Helden, während die Ausmalung vorerst der Phantasie <lb n="pwo_072.024"/> der Hörer überlassen blieb.</p> <lb n="pwo_072.025"/> <p> Wohin wir aber auch nach Resten vorlitterarischer Volkspoesie <lb n="pwo_072.026"/> blicken, und sei es zu den Serben und andern slavischen Völkern, <lb n="pwo_072.027"/> denen erst in der Neuzeit voller Eintritt in die Kultur beschieden ist: <lb n="pwo_072.028"/> durchgehends geschieht die Verherrlichung von Helden durch Erzählung <lb n="pwo_072.029"/> ihrer Heldenthaten, und zwar durch eine Erzählungsart, die Einfachheit <lb n="pwo_072.030"/> mit dramatischer Unmittelbarkeit vereint und für mündlichen Vortrag, <lb n="pwo_072.031"/> sei es sangbar, sei es rezitativ, geschaffen ist.</p> <lb n="pwo_072.032"/> <p> Nicht ohne innere Gründe. Jst die Volksdichtung poetische Gestaltung <lb n="pwo_072.033"/> der im Volke fortlebenden Sage, solange sie von individuellen <lb n="pwo_072.034"/> Jdeen und Tendenzen ungetrübt bleibt: dann postuliert eine <lb n="pwo_072.035"/> solche Jndividualitätslosigkeit notgedrungen schlichte Gegenständlichkeit <lb n="pwo_072.036"/> der Darstellung. Die nackten Thatsachen der Ueberlieferung sind in </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [72/0086]
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lückenhaft das eine vor, welches Hildebrands Kampf mit seinem pwo_072.002
Sohn behandelt.
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Jn seiner Kürze und Gedrungenheit zeigt das Hildebrandslied pwo_072.004
eine charakteristisch ausgeprägte Darstellungsart. Es repräsentiert schon pwo_072.005
die Zeit, da ein Einzelsänger die Volksdichtung vorträgt. Aber ausdrücklich pwo_072.006
beruft er sich auf mündliche Sagenüberlieferung:
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„Ik gihôrta dhat seggen“,
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und zwar
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„dhat sih urhêttun │ ænon muotin pwo_072.010
Hiltibrant enti Hadhubrant │ untar heriun tuêm.“
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So sind wir unmittelbar in die Situation eingeführt und erfahren pwo_072.012
mit fortgesetzt abgerissenem Lakonismus die (uns bereits in ihrem pwo_072.013
Abstand von der Geschichte bekannt gewordene) Sagenauffassung von pwo_072.014
Dietrichs Flucht. Aber nicht mechanisch erzählt wird diese Vorfabel: pwo_072.015
schon sie wird mit dramatischer Unmittelbarkeit in Dialogform entwickelt, pwo_072.016
die denn fortgesetzt Trägerin der Darstellung bleibt; nur pwo_072.017
wenige rein thatsächliche Bemerkungen des Dichters leiten sprunghaft pwo_072.018
von Rede zu Rede über.
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Aehnlich läßt sich für die Homer vorangehenden griechischen Volkslieder pwo_072.020
erschließen, daß sie durchaus auf Kürze angelegt, je ein bedeutsames pwo_072.021
Einzelereignis aus der Sage herausgriffen, dessen Hauptmomente pwo_072.022
allein sie energisch bezeichneten, vor allem durch Verkörperung der pwo_072.023
handelnden Helden, während die Ausmalung vorerst der Phantasie pwo_072.024
der Hörer überlassen blieb.
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Wohin wir aber auch nach Resten vorlitterarischer Volkspoesie pwo_072.026
blicken, und sei es zu den Serben und andern slavischen Völkern, pwo_072.027
denen erst in der Neuzeit voller Eintritt in die Kultur beschieden ist: pwo_072.028
durchgehends geschieht die Verherrlichung von Helden durch Erzählung pwo_072.029
ihrer Heldenthaten, und zwar durch eine Erzählungsart, die Einfachheit pwo_072.030
mit dramatischer Unmittelbarkeit vereint und für mündlichen Vortrag, pwo_072.031
sei es sangbar, sei es rezitativ, geschaffen ist.
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Nicht ohne innere Gründe. Jst die Volksdichtung poetische Gestaltung pwo_072.033
der im Volke fortlebenden Sage, solange sie von individuellen pwo_072.034
Jdeen und Tendenzen ungetrübt bleibt: dann postuliert eine pwo_072.035
solche Jndividualitätslosigkeit notgedrungen schlichte Gegenständlichkeit pwo_072.036
der Darstellung. Die nackten Thatsachen der Ueberlieferung sind in
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