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Wolfrath, Friedrich Wilhelm: Freuden der einsamen Andacht für denkende Christen. Hamburg/Kiel, 1784.

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Ueberreste seiner Kräfte; -- beinahe wäre er
ohne Leben auf dem Wege hingesunken, wenn
man nicht einen Wandrer genöthigt hätte ihm
einen Theil seiner Last nachzutragen. -- Ein
zahlreicher vermischter Haufe des Volks folgt ihm.
-- Welch ein Auftritt! mit dem verglichen, der
sich nur vor vier Tagen ereignete. -- Ganz Je-
rusalem lief ihm dort entgegen, empfieng ihn bei
seiner Ankunft mit frohlockendem Jauchzen, be-
reit, auf seinen Wink ihm die Ehrenkrone auf-
zusetzen. Nun begleitet ihn, mit einer Dornen-
krone zur Schmach verwundet, daßelbe Volk,
zum Richtplatz der Uebelthäter! Ein wildes
murrendes Getöse tobt laut umher; Stimmen
des gleichgültigen Gesprächs, der höhnenden Ver-
achtung, der unmenschlichsten Freude über seine
Quaal, erschallen verwirrt durcheinander; die
Menge wird immer zahlreicher; hier gesellt sich
ein Hause von Rachsucht wider den Unschuldigen
glühend, dort ein andrer aus fühlloser Neubegier-
de, zu den übrigen. -- Schon zeigt sich der
Blutberg von weitem; der Zug kommt ihm im-
mer näher. -- Versteckt, unter der zahllosen
Schaar, wandelt hie und da ein fühlbares Herz,
in tiefe stille Wehmuth gesenkt, den übrigen nach,
das lezte Schicksal des beweinten Unschuldigen

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Ueberreſte ſeiner Kräfte; — beinahe wäre er
ohne Leben auf dem Wege hingeſunken, wenn
man nicht einen Wandrer genöthigt hätte ihm
einen Theil ſeiner Laſt nachzutragen. — Ein
zahlreicher vermiſchter Haufe des Volks folgt ihm.
— Welch ein Auftritt! mit dem verglichen, der
ſich nur vor vier Tagen ereignete. — Ganz Je-
ruſalem lief ihm dort entgegen, empfieng ihn bei
ſeiner Ankunft mit frohlockendem Jauchzen, be-
reit, auf ſeinen Wink ihm die Ehrenkrone auf-
zuſetzen. Nun begleitet ihn, mit einer Dornen-
krone zur Schmach verwundet, daßelbe Volk,
zum Richtplatz der Uebelthäter! Ein wildes
murrendes Getöſe tobt laut umher; Stimmen
des gleichgültigen Geſprächs, der höhnenden Ver-
achtung, der unmenſchlichſten Freude über ſeine
Quaal, erſchallen verwirrt durcheinander; die
Menge wird immer zahlreicher; hier geſellt ſich
ein Hauſe von Rachſucht wider den Unſchuldigen
glühend, dort ein andrer aus fühlloſer Neubegier-
de, zu den übrigen. — Schon zeigt ſich der
Blutberg von weitem; der Zug kommt ihm im-
mer näher. — Verſteckt, unter der zahlloſen
Schaar, wandelt hie und da ein fühlbares Herz,
in tiefe ſtille Wehmuth geſenkt, den übrigen nach,
das lezte Schickſal des beweinten Unſchuldigen

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[263/0315] Ueberreſte ſeiner Kräfte; — beinahe wäre er ohne Leben auf dem Wege hingeſunken, wenn man nicht einen Wandrer genöthigt hätte ihm einen Theil ſeiner Laſt nachzutragen. — Ein zahlreicher vermiſchter Haufe des Volks folgt ihm. — Welch ein Auftritt! mit dem verglichen, der ſich nur vor vier Tagen ereignete. — Ganz Je- ruſalem lief ihm dort entgegen, empfieng ihn bei ſeiner Ankunft mit frohlockendem Jauchzen, be- reit, auf ſeinen Wink ihm die Ehrenkrone auf- zuſetzen. Nun begleitet ihn, mit einer Dornen- krone zur Schmach verwundet, daßelbe Volk, zum Richtplatz der Uebelthäter! Ein wildes murrendes Getöſe tobt laut umher; Stimmen des gleichgültigen Geſprächs, der höhnenden Ver- achtung, der unmenſchlichſten Freude über ſeine Quaal, erſchallen verwirrt durcheinander; die Menge wird immer zahlreicher; hier geſellt ſich ein Hauſe von Rachſucht wider den Unſchuldigen glühend, dort ein andrer aus fühlloſer Neubegier- de, zu den übrigen. — Schon zeigt ſich der Blutberg von weitem; der Zug kommt ihm im- mer näher. — Verſteckt, unter der zahlloſen Schaar, wandelt hie und da ein fühlbares Herz, in tiefe ſtille Wehmuth geſenkt, den übrigen nach, das lezte Schickſal des beweinten Unſchuldigen zu R 4

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Zitationshilfe: Wolfrath, Friedrich Wilhelm: Freuden der einsamen Andacht für denkende Christen. Hamburg/Kiel, 1784, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolfrath_freuden_1784/315>, abgerufen am 24.06.2024.