Wolfrath, Friedrich Wilhelm: Freuden der einsamen Andacht für denkende Christen. Hamburg/Kiel, 1784.zu erwarten; vielleicht noch ein Wunder vom Himmel zu sehn, das der Mordlust Einhalt thä- te, oder, unter seinem Creuze zu weinen. -- Manche können die lange verhaltnen mitleids- vollen Seufzer und Thränen nicht mehr verber- gen, sie dringen laut und mächtig hervor. Je- sus Christus, der Menschenfreund, -- dessen Edelmuth die Beifreude an andrer Glückseligkeit, dessen Stärke im Leiden das Gefühl fremder Noth war, -- vernimt sie unter dem toben- den Lärm. Aber er litte nicht blos durch eignen Schmerz. Schon sah er Jerusalem von allen Seiten belagert, seine Bewohner in tausendfa- cher Noth vergehn; schon hörte er im Geist das bange Klagegeschrei winselnder Mütter und ster- bender Säuglinge. Er wendet sich klagend um, und spricht: "Die ihr mich freundschaftlich be- &q;klagt; weinet nicht über mich! wenig Augen- &q;blicke hab ich nur noch zu dulden, dann ists &q;vollbracht: wendet euer thränendes Auge von &q;meinem Jammer, Freundinnen, und ihr alle, &q;Einwohner Jerusalems; um euer Herz auf die &q;künftigen Tage eures Jammers zu bereiten! &q;sie sind nicht mehr fern! dann werdet ihr, in &q;bittrer Angst, und trostlosem Kummer, um &q;euch weinen: Jede bedrängte verzweifelnde Mut- &q;ter,
zu erwarten; vielleicht noch ein Wunder vom Himmel zu ſehn, das der Mordluſt Einhalt thä- te, oder, unter ſeinem Creuze zu weinen. — Manche können die lange verhaltnen mitleids- vollen Seufzer und Thränen nicht mehr verber- gen, ſie dringen laut und mächtig hervor. Je- ſus Chriſtus, der Menſchenfreund, — deſſen Edelmuth die Beifreude an andrer Glückſeligkeit, deſſen Stärke im Leiden das Gefühl fremder Noth war, — vernimt ſie unter dem toben- den Lärm. Aber er litte nicht blos durch eignen Schmerz. Schon ſah er Jeruſalem von allen Seiten belagert, ſeine Bewohner in tauſendfa- cher Noth vergehn; ſchon hörte er im Geiſt das bange Klagegeſchrei winſelnder Mütter und ſter- bender Säuglinge. Er wendet ſich klagend um, und ſpricht: ”Die ihr mich freundſchaftlich be- &q;klagt; weinet nicht über mich! wenig Augen- &q;blicke hab ich nur noch zu dulden, dann iſts &q;vollbracht: wendet euer thränendes Auge von &q;meinem Jammer, Freundinnen, und ihr alle, &q;Einwohner Jeruſalems; um euer Herz auf die &q;künftigen Tage eures Jammers zu bereiten! &q;ſie ſind nicht mehr fern! dann werdet ihr, in &q;bittrer Angſt, und troſtloſem Kummer, um &q;euch weinen: Jede bedrängte verzweifelnde Mut- &q;ter,
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zu erwarten; vielleicht noch ein Wunder vom
Himmel zu ſehn, das der Mordluſt Einhalt thä-
te, oder, unter ſeinem Creuze zu weinen. —
Manche können die lange verhaltnen mitleids-
vollen Seufzer und Thränen nicht mehr verber-
gen, ſie dringen laut und mächtig hervor. Je-
ſus Chriſtus, der Menſchenfreund, — deſſen
Edelmuth die Beifreude an andrer Glückſeligkeit,
deſſen Stärke im Leiden das Gefühl fremder
Noth war, — vernimt ſie unter dem toben-
den Lärm. Aber er litte nicht blos durch eignen
Schmerz. Schon ſah er Jeruſalem von allen
Seiten belagert, ſeine Bewohner in tauſendfa-
cher Noth vergehn; ſchon hörte er im Geiſt das
bange Klagegeſchrei winſelnder Mütter und ſter-
bender Säuglinge. Er wendet ſich klagend um,
und ſpricht: ”Die ihr mich freundſchaftlich be-
&q;klagt; weinet nicht über mich! wenig Augen-
&q;blicke hab ich nur noch zu dulden, dann iſts
&q;vollbracht: wendet euer thränendes Auge von
&q;meinem Jammer, Freundinnen, und ihr alle,
&q;Einwohner Jeruſalems; um euer Herz auf die
&q;künftigen Tage eures Jammers zu bereiten!
&q;ſie ſind nicht mehr fern! dann werdet ihr, in
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