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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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§ 8. Begriff und Eintheilung der psychischen Gebilde.
eine exactere Bedeutung zu geben. Dabei sind von vornherein
zwei Vorurtheile fern zu halten, zu denen jene ursprüng-
lichen Benennungen leicht verführen: das eine besteht in der
Ansicht, dass ein psychisches Gebilde ein absolut selbstän-
diger Inhalt unserer unmittelbaren Erfahrung sei; das andere
in der Meinung, dass gewissen Gebilden, wie z. B. den Vor-
stellungen, eine Art dinglicher Realität zukomme. In
Wahrheit haben die Gebilde nur die Bedeutung relativ
selbständiger Einheiten, die, wie sie selbst aus mannig-
fachen Elementen zusammengesetzt sind, so unter einander
in einem durchgängigen Zusammenhange stehen, in welchem
sich zugleich fortwährend relativ einfachere zu zusammen-
gesetzteren Gebilden verbinden können. Ferner sind die
Gebilde ebenso wie die in ihnen enthaltenen psychischen
Elemente niemals Objecte sondern Vorgänge, die sich von
einem Moment zum andern verändern, und die daher nur
vermittelst einer willkürlichen Abstraction, die zum Behuf
der Untersuchung mancher derselben freilich unerlässlich ist,
in einem beliebigen Moment fixirt gedacht werden können.
(Vgl. § 2, S. 16.)

2. Alle psychischen Gebilde sind in psychische Elemente,
also in reine Empfindungen und in einfache Gefühle, zer-
legbar. Hierbei verhalten sich aber diese Elemente, gemäß
den in § 7 erörterten Eigenschaften der einfachen Gefühle,
darin wesentlich abweichend, dass die bei einer solchen
Zerlegung gewonnenen Empfindungselemente stets einem
der früher betrachteten Empfindungssysteme angehören,
während sich als Gefühlselemente nicht nur solche ergeben,
die den im Gebilde enthaltenen reinen Empfindungen corre-
spondiren, sondern auch solche, die aus der Zusammensetzung
der Elemente zu einem Gebilde überhaupt erst hervorgehen.
Darum bleiben die Qualitätensysteme der Empfindung bei der
Entwicklung der mannigfaltigsten Gebilde immer constant,

§ 8. Begriff und Eintheilung der psychischen Gebilde.
eine exactere Bedeutung zu geben. Dabei sind von vornherein
zwei Vorurtheile fern zu halten, zu denen jene ursprüng-
lichen Benennungen leicht verführen: das eine besteht in der
Ansicht, dass ein psychisches Gebilde ein absolut selbstän-
diger Inhalt unserer unmittelbaren Erfahrung sei; das andere
in der Meinung, dass gewissen Gebilden, wie z. B. den Vor-
stellungen, eine Art dinglicher Realität zukomme. In
Wahrheit haben die Gebilde nur die Bedeutung relativ
selbständiger Einheiten, die, wie sie selbst aus mannig-
fachen Elementen zusammengesetzt sind, so unter einander
in einem durchgängigen Zusammenhange stehen, in welchem
sich zugleich fortwährend relativ einfachere zu zusammen-
gesetzteren Gebilden verbinden können. Ferner sind die
Gebilde ebenso wie die in ihnen enthaltenen psychischen
Elemente niemals Objecte sondern Vorgänge, die sich von
einem Moment zum andern verändern, und die daher nur
vermittelst einer willkürlichen Abstraction, die zum Behuf
der Untersuchung mancher derselben freilich unerlässlich ist,
in einem beliebigen Moment fixirt gedacht werden können.
(Vgl. § 2, S. 16.)

2. Alle psychischen Gebilde sind in psychische Elemente,
also in reine Empfindungen und in einfache Gefühle, zer-
legbar. Hierbei verhalten sich aber diese Elemente, gemäß
den in § 7 erörterten Eigenschaften der einfachen Gefühle,
darin wesentlich abweichend, dass die bei einer solchen
Zerlegung gewonnenen Empfindungselemente stets einem
der früher betrachteten Empfindungssysteme angehören,
während sich als Gefühlselemente nicht nur solche ergeben,
die den im Gebilde enthaltenen reinen Empfindungen corre-
spondiren, sondern auch solche, die aus der Zusammensetzung
der Elemente zu einem Gebilde überhaupt erst hervorgehen.
Darum bleiben die Qualitätensysteme der Empfindung bei der
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[107/0123] § 8. Begriff und Eintheilung der psychischen Gebilde. eine exactere Bedeutung zu geben. Dabei sind von vornherein zwei Vorurtheile fern zu halten, zu denen jene ursprüng- lichen Benennungen leicht verführen: das eine besteht in der Ansicht, dass ein psychisches Gebilde ein absolut selbstän- diger Inhalt unserer unmittelbaren Erfahrung sei; das andere in der Meinung, dass gewissen Gebilden, wie z. B. den Vor- stellungen, eine Art dinglicher Realität zukomme. In Wahrheit haben die Gebilde nur die Bedeutung relativ selbständiger Einheiten, die, wie sie selbst aus mannig- fachen Elementen zusammengesetzt sind, so unter einander in einem durchgängigen Zusammenhange stehen, in welchem sich zugleich fortwährend relativ einfachere zu zusammen- gesetzteren Gebilden verbinden können. Ferner sind die Gebilde ebenso wie die in ihnen enthaltenen psychischen Elemente niemals Objecte sondern Vorgänge, die sich von einem Moment zum andern verändern, und die daher nur vermittelst einer willkürlichen Abstraction, die zum Behuf der Untersuchung mancher derselben freilich unerlässlich ist, in einem beliebigen Moment fixirt gedacht werden können. (Vgl. § 2, S. 16.) 2. Alle psychischen Gebilde sind in psychische Elemente, also in reine Empfindungen und in einfache Gefühle, zer- legbar. Hierbei verhalten sich aber diese Elemente, gemäß den in § 7 erörterten Eigenschaften der einfachen Gefühle, darin wesentlich abweichend, dass die bei einer solchen Zerlegung gewonnenen Empfindungselemente stets einem der früher betrachteten Empfindungssysteme angehören, während sich als Gefühlselemente nicht nur solche ergeben, die den im Gebilde enthaltenen reinen Empfindungen corre- spondiren, sondern auch solche, die aus der Zusammensetzung der Elemente zu einem Gebilde überhaupt erst hervorgehen. Darum bleiben die Qualitätensysteme der Empfindung bei der Entwicklung der mannigfaltigsten Gebilde immer constant,

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/123>, abgerufen am 21.11.2024.