12. Die Geruchsempfindungen bilden ein mannig- faltiges System von bisher noch unbekannter Anordnung. Wir wissen nur, dass es eine sehr große Anzahl verschie- dener Geruchsqualitäten gibt, zwischen denen sich alle möglichen stetigen Uebergänge vorfinden. Hiernach ist es zweifellos, dass das System eine mehrdimensionale Mannig- faltigkeit ist.
12a. Als ein Hinweis auf eine dereinst vielleicht mögliche Reduction der Geruchsempfindungen auf eine kleinere Anzahl von Hauptqualitäten lässt sich die Thatsache betrachten, dass man die Gerüche in gewisse Classen ordnen kann, deren jede solche Empfindungen enthält, die mehr oder weniger verwandt sind. Derartige Classen sind z. B. die ätherischen, aromatischen, balsamischen, moschusartigen, brenzlichen Gerüche u. s. w. Ein- zelne Beobachtungen lehren, dass gewisse Qualitäten, die durch bestimmte Geruchsstoffe entstehen, auch durch Mischung anderer Geruchsstoffe erzeugt werden können. Aber diese Erfahrungen reichen bis jetzt nicht aus, um die große Menge von Einzel- gerüchen, die jede der erwähnten Classen enthält, auf eine be- grenzte Anzahl von Hauptqualitäten und deren Mischungen zu- rückzuführen. Endlich hat man noch beobachtet, dass sich manche Geruchsreize in den geeigneten Intensitätsverhältnissen angewandt in der Empfindung compensiren; und zwar geschieht dies nicht nur bei solchen Stoffen, die sich, wie z. B. Essigsäure und Ammoniak, chemisch neutralisiren, sondern auch bei solchen, die, wie z. B. Kautschuk und Wachs oder Tolubalsam, außer- halb der Riechzellen chemisch nicht auf einander einwirken. Da jedoch diese Compensation auch dann stattfindet, wenn die beiden Gerüche auf ganz verschiedene Riechflächen, der eine auf die rechte, der andere auf die linke Nasenschleimhaut, einwirken, so handelt es sich hier wahrscheinlich nicht um eine dem unten (22) zu besprechenden Complementarismus der Farben analoge Erschei- nung, sondern möglicher Weise um eine centrale wechselseitige Hemmung der Empfindungen. Gegen jene Analogie spricht außer- dem die Beobachtung, dass eine und dieselbe Geruchsqualität
I. Die psychischen Elemente.
C. Die Geruchs- and Geschmacksempfindungen.
12. Die Geruchsempfindungen bilden ein mannig- faltiges System von bisher noch unbekannter Anordnung. Wir wissen nur, dass es eine sehr große Anzahl verschie- dener Geruchsqualitäten gibt, zwischen denen sich alle möglichen stetigen Uebergänge vorfinden. Hiernach ist es zweifellos, dass das System eine mehrdimensionale Mannig- faltigkeit ist.
12a. Als ein Hinweis auf eine dereinst vielleicht mögliche Reduction der Geruchsempfindungen auf eine kleinere Anzahl von Hauptqualitäten lässt sich die Thatsache betrachten, dass man die Gerüche in gewisse Classen ordnen kann, deren jede solche Empfindungen enthält, die mehr oder weniger verwandt sind. Derartige Classen sind z. B. die ätherischen, aromatischen, balsamischen, moschusartigen, brenzlichen Gerüche u. s. w. Ein- zelne Beobachtungen lehren, dass gewisse Qualitäten, die durch bestimmte Geruchsstoffe entstehen, auch durch Mischung anderer Geruchsstoffe erzeugt werden können. Aber diese Erfahrungen reichen bis jetzt nicht aus, um die große Menge von Einzel- gerüchen, die jede der erwähnten Classen enthält, auf eine be- grenzte Anzahl von Hauptqualitäten und deren Mischungen zu- rückzuführen. Endlich hat man noch beobachtet, dass sich manche Geruchsreize in den geeigneten Intensitätsverhältnissen angewandt in der Empfindung compensiren; und zwar geschieht dies nicht nur bei solchen Stoffen, die sich, wie z. B. Essigsäure und Ammoniak, chemisch neutralisiren, sondern auch bei solchen, die, wie z. B. Kautschuk und Wachs oder Tolubalsam, außer- halb der Riechzellen chemisch nicht auf einander einwirken. Da jedoch diese Compensation auch dann stattfindet, wenn die beiden Gerüche auf ganz verschiedene Riechflächen, der eine auf die rechte, der andere auf die linke Nasenschleimhaut, einwirken, so handelt es sich hier wahrscheinlich nicht um eine dem unten (22) zu besprechenden Complementarismus der Farben analoge Erschei- nung, sondern möglicher Weise um eine centrale wechselseitige Hemmung der Empfindungen. Gegen jene Analogie spricht außer- dem die Beobachtung, dass eine und dieselbe Geruchsqualität
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I. Die psychischen Elemente.
C. Die Geruchs- and Geschmacksempfindungen.
12. Die Geruchsempfindungen bilden ein mannig-
faltiges System von bisher noch unbekannter Anordnung.
Wir wissen nur, dass es eine sehr große Anzahl verschie-
dener Geruchsqualitäten gibt, zwischen denen sich alle
möglichen stetigen Uebergänge vorfinden. Hiernach ist es
zweifellos, dass das System eine mehrdimensionale Mannig-
faltigkeit ist.
12a. Als ein Hinweis auf eine dereinst vielleicht mögliche
Reduction der Geruchsempfindungen auf eine kleinere Anzahl
von Hauptqualitäten lässt sich die Thatsache betrachten, dass
man die Gerüche in gewisse Classen ordnen kann, deren jede
solche Empfindungen enthält, die mehr oder weniger verwandt
sind. Derartige Classen sind z. B. die ätherischen, aromatischen,
balsamischen, moschusartigen, brenzlichen Gerüche u. s. w. Ein-
zelne Beobachtungen lehren, dass gewisse Qualitäten, die durch
bestimmte Geruchsstoffe entstehen, auch durch Mischung anderer
Geruchsstoffe erzeugt werden können. Aber diese Erfahrungen
reichen bis jetzt nicht aus, um die große Menge von Einzel-
gerüchen, die jede der erwähnten Classen enthält, auf eine be-
grenzte Anzahl von Hauptqualitäten und deren Mischungen zu-
rückzuführen. Endlich hat man noch beobachtet, dass sich
manche Geruchsreize in den geeigneten Intensitätsverhältnissen
angewandt in der Empfindung compensiren; und zwar geschieht
dies nicht nur bei solchen Stoffen, die sich, wie z. B. Essigsäure
und Ammoniak, chemisch neutralisiren, sondern auch bei solchen,
die, wie z. B. Kautschuk und Wachs oder Tolubalsam, außer-
halb der Riechzellen chemisch nicht auf einander einwirken. Da
jedoch diese Compensation auch dann stattfindet, wenn die beiden
Gerüche auf ganz verschiedene Riechflächen, der eine auf die
rechte, der andere auf die linke Nasenschleimhaut, einwirken, so
handelt es sich hier wahrscheinlich nicht um eine dem unten (22)
zu besprechenden Complementarismus der Farben analoge Erschei-
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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/78>, abgerufen am 24.11.2024.
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