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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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III. Die Traditionen des Heidenthums.
Weltalter kehrt hier in verschiednen Abwandlungen wieder. Schon
zu Alexanders des Großen Zeit wurde dem Cyniker Onesikritos durch
den indischen Büßer Kalanos eine üppige Schilderung vom goldnen
Zeitalter und der an seine Stelle getretenen schlechteren Folgezeit
mitgetheilt: "Vor Alters war Alles voll Waizen- und Gerstenmehl,
wie jetzt voll Staub; die Quellen flossen, etliche von Wasser, etliche
von Milch, andere von Honig, Wein oder Oel. Uebersättigt von
diesen Gütern fielen die Menschen in Uebermuth, und Zeus, den
Zustand hassend, vernichtete Alles und wies ihnen ein Leben voll
Mühsal an".1) Ausgebildeter Art und das Eigenthümliche der
indischen Weltansicht noch kräftiger ausprägend erscheint die brah-
minische Legende von den vier Zeitaltern der Erde oder Jugas.
Das erste war das Krita- oder Satja-Juga, das "Zeitalter der
Wahrheit," wo die Tugend auf den vier Füßen der Wahrheit, Buße,
Liebe und Mildthätigkeit gieng und die Menschen glückselig lebten.
Das zweite oder Tretajuga "Zeitalter der drei Opferfeuer", entzog
der Tugend bereits einen ihrer vier Füße. Jm dritten oder Dwa-
parajuda, dem "Zeitalter des Zweifels," geht die Tugend, da der
Geist der Buße erlischt, nur noch auf zweien Füßen. Das Kali-
juga oder Zeitalter der Sünde, wo die Tugend nur auf dem Einen
Fuße des Almosengebens steht, dauert noch jetzt an; es wird,
nachdem es bisher bereits einige Jahrtausende gewährt, im Ganzen
432 000 Jahre dauern, und dann mit dem Weltbrande endigen. --
Auch in der Sage von den zehn frommen Pitri's oder Patriarchen der
Urzeit, welche Viradsch-Manu als früheste Beherrscher der Menschen
hervorbrachte und deren zehnter Manu, der indische Sintfluthpatriarch
war, sind bemerkenswerthe Anklänge an die biblische Urgeschichte
enthalten, denen schwerlich eine directe Bekanntschaft mit dieser zu
Grunde liegt. Das Gesetzbuch des Manu nennt die neun Ersten
dieser Zehnzahl oder die Vorgänger Manus selber: Maritschi,
Atri, Angiras, Pulastya, Pulaga, Cratu, Prachetas oder Dakscha,
Brigu und Narada. Nachrichten über die zunehmende religiös-

1) Strabo, Geogr. XV, 8.

III. Die Traditionen des Heidenthums.
Weltalter kehrt hier in verſchiednen Abwandlungen wieder. Schon
zu Alexanders des Großen Zeit wurde dem Cyniker Oneſikritos durch
den indiſchen Büßer Kalanos eine üppige Schilderung vom goldnen
Zeitalter und der an ſeine Stelle getretenen ſchlechteren Folgezeit
mitgetheilt: „Vor Alters war Alles voll Waizen- und Gerſtenmehl,
wie jetzt voll Staub; die Quellen floſſen, etliche von Waſſer, etliche
von Milch, andere von Honig, Wein oder Oel. Ueberſättigt von
dieſen Gütern fielen die Menſchen in Uebermuth, und Zeus, den
Zuſtand haſſend, vernichtete Alles und wies ihnen ein Leben voll
Mühſal an‟.1) Ausgebildeter Art und das Eigenthümliche der
indiſchen Weltanſicht noch kräftiger ausprägend erſcheint die brah-
miniſche Legende von den vier Zeitaltern der Erde oder Jugas.
Das erſte war das Krita- oder Satja-Juga, das „Zeitalter der
Wahrheit,‟ wo die Tugend auf den vier Füßen der Wahrheit, Buße,
Liebe und Mildthätigkeit gieng und die Menſchen glückſelig lebten.
Das zweite oder Tretajuga „Zeitalter der drei Opferfeuer‟, entzog
der Tugend bereits einen ihrer vier Füße. Jm dritten oder Dwa-
parajuda, dem „Zeitalter des Zweifels,‟ geht die Tugend, da der
Geiſt der Buße erliſcht, nur noch auf zweien Füßen. Das Kali-
juga oder Zeitalter der Sünde, wo die Tugend nur auf dem Einen
Fuße des Almoſengebens ſteht, dauert noch jetzt an; es wird,
nachdem es bisher bereits einige Jahrtauſende gewährt, im Ganzen
432 000 Jahre dauern, und dann mit dem Weltbrande endigen. —
Auch in der Sage von den zehn frommen Pitri’s oder Patriarchen der
Urzeit, welche Viradſch-Manu als früheſte Beherrſcher der Menſchen
hervorbrachte und deren zehnter Manu, der indiſche Sintfluthpatriarch
war, ſind bemerkenswerthe Anklänge an die bibliſche Urgeſchichte
enthalten, denen ſchwerlich eine directe Bekanntſchaft mit dieſer zu
Grunde liegt. Das Geſetzbuch des Manu nennt die neun Erſten
dieſer Zehnzahl oder die Vorgänger Manus ſelber: Maritſchi,
Atri, Angiras, Pulaſtya, Pulaga, Cratu, Prachetas oder Dakſcha,
Brigu und Narada. Nachrichten über die zunehmende religiös-

1) Strabo, Geogr. XV, 8.
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[90/0100] III. Die Traditionen des Heidenthums. Weltalter kehrt hier in verſchiednen Abwandlungen wieder. Schon zu Alexanders des Großen Zeit wurde dem Cyniker Oneſikritos durch den indiſchen Büßer Kalanos eine üppige Schilderung vom goldnen Zeitalter und der an ſeine Stelle getretenen ſchlechteren Folgezeit mitgetheilt: „Vor Alters war Alles voll Waizen- und Gerſtenmehl, wie jetzt voll Staub; die Quellen floſſen, etliche von Waſſer, etliche von Milch, andere von Honig, Wein oder Oel. Ueberſättigt von dieſen Gütern fielen die Menſchen in Uebermuth, und Zeus, den Zuſtand haſſend, vernichtete Alles und wies ihnen ein Leben voll Mühſal an‟. 1) Ausgebildeter Art und das Eigenthümliche der indiſchen Weltanſicht noch kräftiger ausprägend erſcheint die brah- miniſche Legende von den vier Zeitaltern der Erde oder Jugas. Das erſte war das Krita- oder Satja-Juga, das „Zeitalter der Wahrheit,‟ wo die Tugend auf den vier Füßen der Wahrheit, Buße, Liebe und Mildthätigkeit gieng und die Menſchen glückſelig lebten. Das zweite oder Tretajuga „Zeitalter der drei Opferfeuer‟, entzog der Tugend bereits einen ihrer vier Füße. Jm dritten oder Dwa- parajuda, dem „Zeitalter des Zweifels,‟ geht die Tugend, da der Geiſt der Buße erliſcht, nur noch auf zweien Füßen. Das Kali- juga oder Zeitalter der Sünde, wo die Tugend nur auf dem Einen Fuße des Almoſengebens ſteht, dauert noch jetzt an; es wird, nachdem es bisher bereits einige Jahrtauſende gewährt, im Ganzen 432 000 Jahre dauern, und dann mit dem Weltbrande endigen. — Auch in der Sage von den zehn frommen Pitri’s oder Patriarchen der Urzeit, welche Viradſch-Manu als früheſte Beherrſcher der Menſchen hervorbrachte und deren zehnter Manu, der indiſche Sintfluthpatriarch war, ſind bemerkenswerthe Anklänge an die bibliſche Urgeſchichte enthalten, denen ſchwerlich eine directe Bekanntſchaft mit dieſer zu Grunde liegt. Das Geſetzbuch des Manu nennt die neun Erſten dieſer Zehnzahl oder die Vorgänger Manus ſelber: Maritſchi, Atri, Angiras, Pulaſtya, Pulaga, Cratu, Prachetas oder Dakſcha, Brigu und Narada. Nachrichten über die zunehmende religiös- 1) Strabo, Geogr. XV, 8.

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/100>, abgerufen am 21.11.2024.