Wir begnügen uns mit dieser Aufzählung, die sich leicht durch noch andre nationale Sagen aus dem älteren wie neueren Heiden- thum hätte vermehren lassen. Das von uns Zusammengestellte reicht dazu hin, die Erinnerung an eine ursprüngliche Zeit gewal- tigerer Urkraft, reinerer Unschuld, größerer Langlebigkeit und unge- störterer Glückseligkeit der Menschen als ein Gemeingut sämmtlicher älterer Culturnationen darzuthun. Mehr oder minder craß natu- ralistische Züge erscheinen diesen heidnischen Parallelen zu den Kapiteln 2--11 des ersten Buchs der Bibel stellenweise allerdings beigemengt. Namentlich das Autochthonenthum, die Jdee einer Erdgeburt der Menschen oder ihres Entwickeltseins aus Bäumen u. dgl., spielt auf verschiednen Punkten in das betrachtete Sagen- gewirre hinein. So wird weiter unten (Nr. VIII) auch gewisser bei einzelnen Völkern eine Rolle spielender Affen-Mythen zu ge- denken sein. Doch kommt diesen evolutionistischen Gedanken, ver- glichen mit dem weit stärker vertretnen degradationistischen Element, durchweg eine untergeordnete Bedeutung zu. Und namentlich im classischen Heidenthum hat diejenige Fassung der naturalistischen Geschichtsphilosophie und Lehre vom Menschen, welche diesen als bloßes Entwicklungsproduct der Materie denkt und jeder Annahme eines ursprünglichen Vollkommenheitszustands fern bleibt, entschieden als Product einer späteren philosophischen Reflexion zu gelten, die niemals Volksglaube war noch werden konnte, deren Gegensatz zu jener der biblischen Geschichtsansicht näher stehenden älteren und verbreiteren Tradition also von keiner Bedeutung ist. Die meisten dieser Speculationen hellenischer Philosophen über den rein natürlich gedachten Ursprung des Menschengeschlechts und seiner Cultur, in welchen theils der Materialismus theils der Darwinismus unserer Tage gern ihre Vorläufer erblicken, erscheinen als die Einfälle ein- zelner, mehr oder minder isolirt stehender Köpfe von geringem Einflusse auf das Ganze der Volksmeinung. Was kümmerte es die große Menge, ob Anaximander den Menschen "aus Thieren von andren Formen als die heutigen", und zwar zunächst aus
III. Die Traditionen des Heidenthums.
Wir begnügen uns mit dieſer Aufzählung, die ſich leicht durch noch andre nationale Sagen aus dem älteren wie neueren Heiden- thum hätte vermehren laſſen. Das von uns Zuſammengeſtellte reicht dazu hin, die Erinnerung an eine urſprüngliche Zeit gewal- tigerer Urkraft, reinerer Unſchuld, größerer Langlebigkeit und unge- ſtörterer Glückſeligkeit der Menſchen als ein Gemeingut ſämmtlicher älterer Culturnationen darzuthun. Mehr oder minder craß natu- raliſtiſche Züge erſcheinen dieſen heidniſchen Parallelen zu den Kapiteln 2—11 des erſten Buchs der Bibel ſtellenweiſe allerdings beigemengt. Namentlich das Autochthonenthum, die Jdee einer Erdgeburt der Menſchen oder ihres Entwickeltſeins aus Bäumen u. dgl., ſpielt auf verſchiednen Punkten in das betrachtete Sagen- gewirre hinein. So wird weiter unten (Nr. VIII) auch gewiſſer bei einzelnen Völkern eine Rolle ſpielender Affen-Mythen zu ge- denken ſein. Doch kommt dieſen evolutioniſtiſchen Gedanken, ver- glichen mit dem weit ſtärker vertretnen degradationiſtiſchen Element, durchweg eine untergeordnete Bedeutung zu. Und namentlich im claſſiſchen Heidenthum hat diejenige Faſſung der naturaliſtiſchen Geſchichtsphiloſophie und Lehre vom Menſchen, welche dieſen als bloßes Entwicklungsproduct der Materie denkt und jeder Annahme eines urſprünglichen Vollkommenheitszuſtands fern bleibt, entſchieden als Product einer ſpäteren philoſophiſchen Reflexion zu gelten, die niemals Volksglaube war noch werden konnte, deren Gegenſatz zu jener der bibliſchen Geſchichtsanſicht näher ſtehenden älteren und verbreiteren Tradition alſo von keiner Bedeutung iſt. Die meiſten dieſer Speculationen helleniſcher Philoſophen über den rein natürlich gedachten Urſprung des Menſchengeſchlechts und ſeiner Cultur, in welchen theils der Materialismus theils der Darwinismus unſerer Tage gern ihre Vorläufer erblicken, erſcheinen als die Einfälle ein- zelner, mehr oder minder iſolirt ſtehender Köpfe von geringem Einfluſſe auf das Ganze der Volksmeinung. Was kümmerte es die große Menge, ob Anaximander den Menſchen „aus Thieren von andren Formen als die heutigen‟, und zwar zunächſt aus
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III. Die Traditionen des Heidenthums.
Wir begnügen uns mit dieſer Aufzählung, die ſich leicht durch
noch andre nationale Sagen aus dem älteren wie neueren Heiden-
thum hätte vermehren laſſen. Das von uns Zuſammengeſtellte
reicht dazu hin, die Erinnerung an eine urſprüngliche Zeit gewal-
tigerer Urkraft, reinerer Unſchuld, größerer Langlebigkeit und unge-
ſtörterer Glückſeligkeit der Menſchen als ein Gemeingut ſämmtlicher
älterer Culturnationen darzuthun. Mehr oder minder craß natu-
raliſtiſche Züge erſcheinen dieſen heidniſchen Parallelen zu den
Kapiteln 2—11 des erſten Buchs der Bibel ſtellenweiſe allerdings
beigemengt. Namentlich das Autochthonenthum, die Jdee einer
Erdgeburt der Menſchen oder ihres Entwickeltſeins aus Bäumen
u. dgl., ſpielt auf verſchiednen Punkten in das betrachtete Sagen-
gewirre hinein. So wird weiter unten (Nr. VIII) auch gewiſſer
bei einzelnen Völkern eine Rolle ſpielender Affen-Mythen zu ge-
denken ſein. Doch kommt dieſen evolutioniſtiſchen Gedanken, ver-
glichen mit dem weit ſtärker vertretnen degradationiſtiſchen Element,
durchweg eine untergeordnete Bedeutung zu. Und namentlich im
claſſiſchen Heidenthum hat diejenige Faſſung der naturaliſtiſchen
Geſchichtsphiloſophie und Lehre vom Menſchen, welche dieſen als
bloßes Entwicklungsproduct der Materie denkt und jeder Annahme
eines urſprünglichen Vollkommenheitszuſtands fern bleibt, entſchieden
als Product einer ſpäteren philoſophiſchen Reflexion zu gelten, die
niemals Volksglaube war noch werden konnte, deren Gegenſatz zu
jener der bibliſchen Geſchichtsanſicht näher ſtehenden älteren und
verbreiteren Tradition alſo von keiner Bedeutung iſt. Die meiſten
dieſer Speculationen helleniſcher Philoſophen über den rein natürlich
gedachten Urſprung des Menſchengeſchlechts und ſeiner Cultur, in
welchen theils der Materialismus theils der Darwinismus unſerer
Tage gern ihre Vorläufer erblicken, erſcheinen als die Einfälle ein-
zelner, mehr oder minder iſolirt ſtehender Köpfe von geringem
Einfluſſe auf das Ganze der Volksmeinung. Was kümmerte es
die große Menge, ob Anaximander den Menſchen „aus Thieren
von andren Formen als die heutigen‟, und zwar zunächſt aus
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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/111>, abgerufen am 21.11.2024.
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