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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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IV. Die Opposition des modernen Naturalismus.
Sagen der Urzeit endgültig unmöglich machen zu sollen. -- Auf
der anderen Seite wird auch von den Vertheidigern der älteren
Ueberlieferung mannhaft gestritten. Gerade das Gegentheil dessen,
was die negativen Kritiker aus ihren wirklichen oder vermeintlichen
Monumenten der Urzeit herauszulesen suchen, wird von ihnen,
gleichfalls auf Grund tief eindringender antiquarischer, paläontolo-
gischer, sprach-, cultur- und religionsgeschichtlicher Forschungen, be-
hauptet. Die Arsenale der neuen Wissenschaften bieten ihnen nicht
minder schneidige Waffen zur Vertheidigung, wie Jenen zur Be-
kämpfung des kirchlichen Standpunkts oder wenigstens des Kernes
der kirchlichen Ueberlieferung dar. Und jedenfalls wird es ihnen
leicht, die vielfache Beeinflussung ihrer Gegner durch vorgefaßte
Meinungen und Lieblingstheorien nachzuweisen und eine unbefangnere
Jnterpretation der prähistorischen Monumente sowie eine gründlichere
Sichtung der sonstigen für die Urwildheits-Hypothese ins Feld
geführten Beweisinstanzen als nothwendig darzuthun.

Eine ziemlich acute Gestalt gewann der unsre Frage betreffende
Conflict schon in der ersten Hälfte des Jahrhunderts in Folge des
streng reactionären Auftretens einer Anzahl von Romantikern, ins-
besondere römisch-katholischer, denen die naturalistische Richtung sich
mit entsprechender Heftigkeit widersetzte. Jn Deutschland sowohl
wie in Frankreich wurden die betreffenden Verhandlungen zunächst
auf ziemlich unwissenschaftliche Weise geführt, jedenfalls ohne An-
wendung einer derartigen exacten Untersuchungsmethode, wie die
moderne Naturforschung sie fordert. Graf Joseph de Maistre
bekämpfte die revolutionäre Fortschrittstheorie Condorcets und seiner
Geistesverwandten als den "Lieblingstraum, Mutter-Jrrthum und
die Urlüge unsres Jahrhunderts". Jn seinen "St. Petersburger
Soireen" (1821) stellte er ihr eine sehr decidirte Entartungstheorie
gegenüber. Eine zwar nicht vollständig civilisirte, aber doch geistig
hochstehende und im Besitze schon mancher wichtiger Künste und
Kentnisse befindliche Urmenschheit sei das erste gewesen. Von ihr
aus sei die menschliche Entwicklung einerseits vorwärts geschritten

IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.
Sagen der Urzeit endgültig unmöglich machen zu ſollen. — Auf
der anderen Seite wird auch von den Vertheidigern der älteren
Ueberlieferung mannhaft geſtritten. Gerade das Gegentheil deſſen,
was die negativen Kritiker aus ihren wirklichen oder vermeintlichen
Monumenten der Urzeit herauszuleſen ſuchen, wird von ihnen,
gleichfalls auf Grund tief eindringender antiquariſcher, paläontolo-
giſcher, ſprach-, cultur- und religionsgeſchichtlicher Forſchungen, be-
hauptet. Die Arſenale der neuen Wiſſenſchaften bieten ihnen nicht
minder ſchneidige Waffen zur Vertheidigung, wie Jenen zur Be-
kämpfung des kirchlichen Standpunkts oder wenigſtens des Kernes
der kirchlichen Ueberlieferung dar. Und jedenfalls wird es ihnen
leicht, die vielfache Beeinfluſſung ihrer Gegner durch vorgefaßte
Meinungen und Lieblingstheorien nachzuweiſen und eine unbefangnere
Jnterpretation der prähiſtoriſchen Monumente ſowie eine gründlichere
Sichtung der ſonſtigen für die Urwildheits-Hypotheſe ins Feld
geführten Beweisinſtanzen als nothwendig darzuthun.

Eine ziemlich acute Geſtalt gewann der unſre Frage betreffende
Conflict ſchon in der erſten Hälfte des Jahrhunderts in Folge des
ſtreng reactionären Auftretens einer Anzahl von Romantikern, ins-
beſondere römiſch-katholiſcher, denen die naturaliſtiſche Richtung ſich
mit entſprechender Heftigkeit widerſetzte. Jn Deutſchland ſowohl
wie in Frankreich wurden die betreffenden Verhandlungen zunächſt
auf ziemlich unwiſſenſchaftliche Weiſe geführt, jedenfalls ohne An-
wendung einer derartigen exacten Unterſuchungsmethode, wie die
moderne Naturforſchung ſie fordert. Graf Joſeph de Maiſtre
bekämpfte die revolutionäre Fortſchrittstheorie Condorcets und ſeiner
Geiſtesverwandten als den „Lieblingstraum, Mutter-Jrrthum und
die Urlüge unſres Jahrhunderts‟. Jn ſeinen „St. Petersburger
Soiréen‟ (1821) ſtellte er ihr eine ſehr decidirte Entartungstheorie
gegenüber. Eine zwar nicht vollſtändig civiliſirte, aber doch geiſtig
hochſtehende und im Beſitze ſchon mancher wichtiger Künſte und
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[125/0135] IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus. Sagen der Urzeit endgültig unmöglich machen zu ſollen. — Auf der anderen Seite wird auch von den Vertheidigern der älteren Ueberlieferung mannhaft geſtritten. Gerade das Gegentheil deſſen, was die negativen Kritiker aus ihren wirklichen oder vermeintlichen Monumenten der Urzeit herauszuleſen ſuchen, wird von ihnen, gleichfalls auf Grund tief eindringender antiquariſcher, paläontolo- giſcher, ſprach-, cultur- und religionsgeſchichtlicher Forſchungen, be- hauptet. Die Arſenale der neuen Wiſſenſchaften bieten ihnen nicht minder ſchneidige Waffen zur Vertheidigung, wie Jenen zur Be- kämpfung des kirchlichen Standpunkts oder wenigſtens des Kernes der kirchlichen Ueberlieferung dar. Und jedenfalls wird es ihnen leicht, die vielfache Beeinfluſſung ihrer Gegner durch vorgefaßte Meinungen und Lieblingstheorien nachzuweiſen und eine unbefangnere Jnterpretation der prähiſtoriſchen Monumente ſowie eine gründlichere Sichtung der ſonſtigen für die Urwildheits-Hypotheſe ins Feld geführten Beweisinſtanzen als nothwendig darzuthun. Eine ziemlich acute Geſtalt gewann der unſre Frage betreffende Conflict ſchon in der erſten Hälfte des Jahrhunderts in Folge des ſtreng reactionären Auftretens einer Anzahl von Romantikern, ins- beſondere römiſch-katholiſcher, denen die naturaliſtiſche Richtung ſich mit entſprechender Heftigkeit widerſetzte. Jn Deutſchland ſowohl wie in Frankreich wurden die betreffenden Verhandlungen zunächſt auf ziemlich unwiſſenſchaftliche Weiſe geführt, jedenfalls ohne An- wendung einer derartigen exacten Unterſuchungsmethode, wie die moderne Naturforſchung ſie fordert. Graf Joſeph de Maiſtre bekämpfte die revolutionäre Fortſchrittstheorie Condorcets und ſeiner Geiſtesverwandten als den „Lieblingstraum, Mutter-Jrrthum und die Urlüge unſres Jahrhunderts‟. Jn ſeinen „St. Petersburger Soiréen‟ (1821) ſtellte er ihr eine ſehr decidirte Entartungstheorie gegenüber. Eine zwar nicht vollſtändig civiliſirte, aber doch geiſtig hochſtehende und im Beſitze ſchon mancher wichtiger Künſte und Kentniſſe befindliche Urmenſchheit ſei das erſte geweſen. Von ihr aus ſei die menſchliche Entwicklung einerſeits vorwärts geſchritten

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/135>, abgerufen am 24.11.2024.