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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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IV. Die Opposition des modernen Naturalismus.
zur Erzeugung höherer Cultur, andrerseits aber auch rückwärts zur
Entstehung barbarischer Nationen. Die heutigen Wilden aller Erd-
theile seien die zerstreuten Trümmer jener viel höherstehenden ein-
heitlichen Urrace unsres Geschlechts. 1) -- Die geistvoll und geschickt
begründete Theorie gewann den Beifall weiterer Kreise. Für
Deutschland kam ihr die principielle Zustimmung mehrerer bedeu-
tender Historiker des anhebenden neuen Jahrhunderts zu Gute, und
zwar nicht bloß eines Joh. v. Müller, dessen Standpunkt überhaupt
wesentlich der christliche war, sondern auch eines Niebuhr, der schon
ein Jahrzehnt vor de Maistre den Philosophen, welche völlige Wild-
heit als den Ausgangspunkt aller Völkergeschichte betrachten, vor-
geworfen hatte: sie übersähen, "daß kein einziges Beispiel von einem
wirklich wilden Volke aufzuweisen ist, welches frei zur Cultur über-
gegangen wäre, und daß, wo diese von außen aufgedrängt wurde,
physisches Absterben des Stammes die Folge war". 2) Daher denn
hier nicht bloß katholische Romantiker für den Grundgedanken der
de Maistreschen Degradationslehre eintraten, wie beispielsweise
F. v. Schlegel, dessen Geschichtsphilosophie (1828) Wiederherstellung
des durch den Sündenfall verlorenen göttlichen Ebenbilds für die
Aufgabe der gesammten geschichtlichen Entwicklung erklärte, oder wie
J. v. Görres, der sogar die altkirchliche Betrachtungsweise zu er-
neuern suchte und eine typische Sechszahl von Hauptperioden der
Geschichte, gemäß dem mosaischen Hexaemeron lehrte, oder wie die
theilweise in ihrem Gefolge auftretenden Theosophen Molitor, Leop.
Schmid, Baader, v. Lasaulx etc., 3) sammt den Neu-Scholastikern des

1) Soirees de St.-Petersbourg, 1821, II, p. 150.
2) Römische Geschichte, Bd. I, 1811, S. 88.
3) F. v. Schlegel, Vorlesungen über Philos. der Geschichte, 1828. --
J. v. Görres, Europa und die Revolution, 1821. -- Wegen Molitors
Annahme einer paradiesischen Urreligion in Gestalt eines "heiligen magischen
Naturcultus" sowie eines allmähligen Sichlosreißens der noch im Kindesalter
stehenden vorsintfluthlichen Menschheit von diesem gemeinsamen Urherd ihrer
Entwicklung; deßgleichen wegen der noch strenger biblischen Betrachtungsweise

IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.
zur Erzeugung höherer Cultur, andrerſeits aber auch rückwärts zur
Entſtehung barbariſcher Nationen. Die heutigen Wilden aller Erd-
theile ſeien die zerſtreuten Trümmer jener viel höherſtehenden ein-
heitlichen Urrace unſres Geſchlechts. 1) — Die geiſtvoll und geſchickt
begründete Theorie gewann den Beifall weiterer Kreiſe. Für
Deutſchland kam ihr die principielle Zuſtimmung mehrerer bedeu-
tender Hiſtoriker des anhebenden neuen Jahrhunderts zu Gute, und
zwar nicht bloß eines Joh. v. Müller, deſſen Standpunkt überhaupt
weſentlich der chriſtliche war, ſondern auch eines Niebuhr, der ſchon
ein Jahrzehnt vor de Maiſtre den Philoſophen, welche völlige Wild-
heit als den Ausgangspunkt aller Völkergeſchichte betrachten, vor-
geworfen hatte: ſie überſähen, „daß kein einziges Beiſpiel von einem
wirklich wilden Volke aufzuweiſen iſt, welches frei zur Cultur über-
gegangen wäre, und daß, wo dieſe von außen aufgedrängt wurde,
phyſiſches Abſterben des Stammes die Folge war‟. 2) Daher denn
hier nicht bloß katholiſche Romantiker für den Grundgedanken der
de Maiſtreſchen Degradationslehre eintraten, wie beiſpielsweiſe
F. v. Schlegel, deſſen Geſchichtsphiloſophie (1828) Wiederherſtellung
des durch den Sündenfall verlorenen göttlichen Ebenbilds für die
Aufgabe der geſammten geſchichtlichen Entwicklung erklärte, oder wie
J. v. Görres, der ſogar die altkirchliche Betrachtungsweiſe zu er-
neuern ſuchte und eine typiſche Sechszahl von Hauptperioden der
Geſchichte, gemäß dem moſaiſchen Hexaëmeron lehrte, oder wie die
theilweiſe in ihrem Gefolge auftretenden Theoſophen Molitor, Leop.
Schmid, Baader, v. Laſaulx ꝛc., 3) ſammt den Neu-Scholaſtikern des

1) Soirées de St.-Petersbourg, 1821, II, p. 150.
2) Römiſche Geſchichte, Bd. I, 1811, S. 88.
3) F. v. Schlegel, Vorleſungen über Philoſ. der Geſchichte, 1828. —
J. v. Görres, Europa und die Revolution, 1821. — Wegen Molitors
Annahme einer paradieſiſchen Urreligion in Geſtalt eines „heiligen magiſchen
Naturcultus‟ ſowie eines allmähligen Sichlosreißens der noch im Kindesalter
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[126/0136] IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus. zur Erzeugung höherer Cultur, andrerſeits aber auch rückwärts zur Entſtehung barbariſcher Nationen. Die heutigen Wilden aller Erd- theile ſeien die zerſtreuten Trümmer jener viel höherſtehenden ein- heitlichen Urrace unſres Geſchlechts. 1) — Die geiſtvoll und geſchickt begründete Theorie gewann den Beifall weiterer Kreiſe. Für Deutſchland kam ihr die principielle Zuſtimmung mehrerer bedeu- tender Hiſtoriker des anhebenden neuen Jahrhunderts zu Gute, und zwar nicht bloß eines Joh. v. Müller, deſſen Standpunkt überhaupt weſentlich der chriſtliche war, ſondern auch eines Niebuhr, der ſchon ein Jahrzehnt vor de Maiſtre den Philoſophen, welche völlige Wild- heit als den Ausgangspunkt aller Völkergeſchichte betrachten, vor- geworfen hatte: ſie überſähen, „daß kein einziges Beiſpiel von einem wirklich wilden Volke aufzuweiſen iſt, welches frei zur Cultur über- gegangen wäre, und daß, wo dieſe von außen aufgedrängt wurde, phyſiſches Abſterben des Stammes die Folge war‟. 2) Daher denn hier nicht bloß katholiſche Romantiker für den Grundgedanken der de Maiſtreſchen Degradationslehre eintraten, wie beiſpielsweiſe F. v. Schlegel, deſſen Geſchichtsphiloſophie (1828) Wiederherſtellung des durch den Sündenfall verlorenen göttlichen Ebenbilds für die Aufgabe der geſammten geſchichtlichen Entwicklung erklärte, oder wie J. v. Görres, der ſogar die altkirchliche Betrachtungsweiſe zu er- neuern ſuchte und eine typiſche Sechszahl von Hauptperioden der Geſchichte, gemäß dem moſaiſchen Hexaëmeron lehrte, oder wie die theilweiſe in ihrem Gefolge auftretenden Theoſophen Molitor, Leop. Schmid, Baader, v. Laſaulx ꝛc., 3) ſammt den Neu-Scholaſtikern des 1) Soirées de St.-Petersbourg, 1821, II, p. 150. 2) Römiſche Geſchichte, Bd. I, 1811, S. 88. 3) F. v. Schlegel, Vorleſungen über Philoſ. der Geſchichte, 1828. — J. v. Görres, Europa und die Revolution, 1821. — Wegen Molitors Annahme einer paradieſiſchen Urreligion in Geſtalt eines „heiligen magiſchen Naturcultus‟ ſowie eines allmähligen Sichlosreißens der noch im Kindesalter ſtehenden vorſintfluthlichen Menſchheit von dieſem gemeinſamen Urherd ihrer Entwicklung; deßgleichen wegen der noch ſtrenger bibliſchen Betrachtungsweiſe

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/136>, abgerufen am 24.11.2024.