Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.V. Prüfung der vorgeschichtlich-anthropologischen Gegeninstanzen. weitere Stütze der Pithekoiden-Theorie, von welcher wenigstens eineZeitlang viel die Rede war, der bei Brüx in Böhmen 1871 aus- gegrabene Brüxer Schädel, wurde von einer Autorität wie Roki- tanski ganz ähnlich beurtheilt, wie der Neanderthaler Schädel von Virchow u. AA., als eine pathologische Mißbildung nemlich. Die übereinstimmenden Angaben derer, die ihn wissenschaftlich untersucht, bezeichnen ihn als einem knochenkranken, vielleicht syphilitischen Men- schen angehörig. Jn den neuesten Erörterungen über unser Thema wird er, offenbar wegen Mißtrauens gegen seine Verwerthbarkeit, schon kaum mehr genannt.1) Ein Schädel von Cannstatt, einer von Gibraltar, ein im Löß bei Colmar aufgefundener, ein durch Piette in der Grotte von Gurdon entdeckter, sind sämmtlich so defect, nem- lich des Gesichtstheils gänzlich beraubt, daß auf ihre Beschaffenheit gebauten Schlüsse nothwendig als höchst precär gelten müssen. Eben dieß gilt von dem berüchtigten Unterkiefer von la Naulette, der einem Menschen mit nur sehr schwach hervortretenden Kinne angehört zu haben scheint.2) Wollte man die von Broca und Quatrefages versuchte Zusammenfassung dieser letztgenannten Schädel als zu Einer urweltlichen Race von besonders wildem Charakter, der s. g. Canstatt- Race, gehörig gelten lassen, so würde doch immer noch Mehreres ganz unsicher und problematisch bleiben, insbesondere das Alter der einzelnen Specimina, die unter sehr verschiednen Verhältnissen und an ziemlich weit voneinander entfernten Orten aufgefunden lediglich dem System zulieb als der frühesten Quaternärzeit oder s. g. Mam- muthperiode entstammend bestimmt werden, während unbefangene Forschung die ihre Zeitbestimmung betreffenden Versuche im Ein- zelnen von den größten Schwierigkeiten umgeben sieht und überhaupt 1) Vgl. v. Hellwald, im Ausl. 1872, S. 1124; Ratzel, Vorgeschichte etc. S. 96. 2) Schaaffhausen u. einige AA. wollen diesen Naulette-Unterkiefer als einen besonders thierisch-artigen, dem Affentypus sich nähernden betrachtet wissen. Quatrefages a. a. O., II, 22 geht nicht so weit, obschon er das starke Zurück- treten des Kinnes gleichfalls hervorhebt. Zöckler Urstand. 11
V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen. weitere Stütze der Pithekoiden-Theorie, von welcher wenigſtens eineZeitlang viel die Rede war, der bei Brüx in Böhmen 1871 aus- gegrabene Brüxer Schädel, wurde von einer Autorität wie Roki- tanski ganz ähnlich beurtheilt, wie der Neanderthaler Schädel von Virchow u. AA., als eine pathologiſche Mißbildung nemlich. Die übereinſtimmenden Angaben derer, die ihn wiſſenſchaftlich unterſucht, bezeichnen ihn als einem knochenkranken, vielleicht ſyphilitiſchen Men- ſchen angehörig. Jn den neueſten Erörterungen über unſer Thema wird er, offenbar wegen Mißtrauens gegen ſeine Verwerthbarkeit, ſchon kaum mehr genannt.1) Ein Schädel von Cannſtatt, einer von Gibraltar, ein im Löß bei Colmar aufgefundener, ein durch Piette in der Grotte von Gurdon entdeckter, ſind ſämmtlich ſo defect, nem- lich des Geſichtstheils gänzlich beraubt, daß auf ihre Beſchaffenheit gebauten Schlüſſe nothwendig als höchſt precär gelten müſſen. Eben dieß gilt von dem berüchtigten Unterkiefer von la Naulette, der einem Menſchen mit nur ſehr ſchwach hervortretenden Kinne angehört zu haben ſcheint.2) Wollte man die von Broca und Quatrefages verſuchte Zuſammenfaſſung dieſer letztgenannten Schädel als zu Einer urweltlichen Race von beſonders wildem Charakter, der ſ. g. Canſtatt- Race, gehörig gelten laſſen, ſo würde doch immer noch Mehreres ganz unſicher und problematiſch bleiben, insbeſondere das Alter der einzelnen Specimina, die unter ſehr verſchiednen Verhältniſſen und an ziemlich weit voneinander entfernten Orten aufgefunden lediglich dem Syſtem zulieb als der früheſten Quaternärzeit oder ſ. g. Mam- muthperiode entſtammend beſtimmt werden, während unbefangene Forſchung die ihre Zeitbeſtimmung betreffenden Verſuche im Ein- zelnen von den größten Schwierigkeiten umgeben ſieht und überhaupt 1) Vgl. v. Hellwald, im Ausl. 1872, S. 1124; Ratzel, Vorgeſchichte ꝛc. S. 96. 2) Schaaffhauſen u. einige AA. wollen dieſen Naulette-Unterkiefer als einen beſonders thieriſch-artigen, dem Affentypus ſich nähernden betrachtet wiſſen. Quatrefages a. a. O., II, 22 geht nicht ſo weit, obſchon er das ſtarke Zurück- treten des Kinnes gleichfalls hervorhebt. Zöckler Urſtand. 11
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V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.
weitere Stütze der Pithekoiden-Theorie, von welcher wenigſtens eine
Zeitlang viel die Rede war, der bei Brüx in Böhmen 1871 aus-
gegrabene Brüxer Schädel, wurde von einer Autorität wie Roki-
tanski ganz ähnlich beurtheilt, wie der Neanderthaler Schädel von
Virchow u. AA., als eine pathologiſche Mißbildung nemlich. Die
übereinſtimmenden Angaben derer, die ihn wiſſenſchaftlich unterſucht,
bezeichnen ihn als einem knochenkranken, vielleicht ſyphilitiſchen Men-
ſchen angehörig. Jn den neueſten Erörterungen über unſer Thema
wird er, offenbar wegen Mißtrauens gegen ſeine Verwerthbarkeit,
ſchon kaum mehr genannt. 1) Ein Schädel von Cannſtatt, einer von
Gibraltar, ein im Löß bei Colmar aufgefundener, ein durch Piette
in der Grotte von Gurdon entdeckter, ſind ſämmtlich ſo defect, nem-
lich des Geſichtstheils gänzlich beraubt, daß auf ihre Beſchaffenheit
gebauten Schlüſſe nothwendig als höchſt precär gelten müſſen. Eben
dieß gilt von dem berüchtigten Unterkiefer von la Naulette, der
einem Menſchen mit nur ſehr ſchwach hervortretenden Kinne angehört
zu haben ſcheint. 2) Wollte man die von Broca und Quatrefages
verſuchte Zuſammenfaſſung dieſer letztgenannten Schädel als zu Einer
urweltlichen Race von beſonders wildem Charakter, der ſ. g. Canſtatt-
Race, gehörig gelten laſſen, ſo würde doch immer noch Mehreres
ganz unſicher und problematiſch bleiben, insbeſondere das Alter der
einzelnen Specimina, die unter ſehr verſchiednen Verhältniſſen und
an ziemlich weit voneinander entfernten Orten aufgefunden lediglich
dem Syſtem zulieb als der früheſten Quaternärzeit oder ſ. g. Mam-
muthperiode entſtammend beſtimmt werden, während unbefangene
Forſchung die ihre Zeitbeſtimmung betreffenden Verſuche im Ein-
zelnen von den größten Schwierigkeiten umgeben ſieht und überhaupt
1) Vgl. v. Hellwald, im Ausl. 1872, S. 1124; Ratzel, Vorgeſchichte ꝛc.
S. 96.
2) Schaaffhauſen u. einige AA. wollen dieſen Naulette-Unterkiefer als
einen beſonders thieriſch-artigen, dem Affentypus ſich nähernden betrachtet wiſſen.
Quatrefages a. a. O., II, 22 geht nicht ſo weit, obſchon er das ſtarke Zurück-
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