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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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VI. Sprach-, religions- und culturgeschichtliche Jnstanzen.
früheste Form des Gottesbegriffs, ein wilder Lingam- oder Phallus-
cult, werde entsprochen haben, wagen Einige zu huldigen,1) während
Andre vor der Ziehung dieser Consequenz zurückschrecken. Es ist eine
seltsame Concordia discors, ein wildes Babel widerstreitender Mei-
nungen, das sich hier aufthut. Die Gründe aber, auf denen die
verschiednen Theorien fußen, sind wie überall auf diesem Gebiete
nichts als übereilte Verallgemeinerungen, voreilige Rückschlüsse von
modernem Beobachtungsmaterial auf vermeintliche Urzustände, kühne
Geschichtsconstructionen und willkürliche Einfälle der bodenlosesten Art.

Nur bei zweien dieser Argumente mag hier etwas verweilt
werden, weil gerade auf sie von Vielen unsrer Gegner ein Haupt-
gewicht gelegt worden ist, während doch präcisere Feststellung der That-
sachen, auf welche sie sich beziehen, sehr entschieden gegen ihre Verwerth-
barkeit für naturalistischen Theorien vom Ursprunge der Religion spricht.

Eine Hauptrolle spielt im Räsonnement Lubbocks und seiner
Geistesverwandten, wozu wir namentlich auch einige deutsche Vor-
kämpfer des Descendenzglaubens wie Büchner, Vogt, Oscar Schmidt,
Moritz Wagner etc. rechnen müssen, die Behauptung vom Vorkommen
völlig religionsloser Völker, nebst der daraus gezogenen
Folgerung eines absoluten Atheismus als der Urgrundlage aller
religionsgeschichtlichen Entwicklung. Die Menschheit soll den Proceß
ihres religiös-ethischen Vorstellens und Bildens als vollständige
tabula rasa begonnen haben; das altübliche dogmatische Argument
vom Consensus aller Völker soll null und nichtig sein, weil that-
sächlich eine Reihe von neuerdings beobachteten wilden Stämmen
jeder Spur von religiösen Begriffen, Ueberlieferungen und Ge-
bräuchen entbehre.2) -- Hier ist Beides gleich sehr unerwiesen und

1) Baissac (Les origines de la religion, 2 vols., Paris 1876); Jules
Soury (Etudes historiques sur les religions, les arts, etc. Par. 1877),
Kulischer (a. a. O.) u. AA.
2) Speciellere Nachweise sowohl über diese Behauptungen Lubbocks, Büch-
ners, Vogts etc. als über das im Folgendenden dawider zu Bemerkende bietet
meine Schrift: Das Kreuz Christi etc. 1875, (Excurs V: "Wider die Be-
hauptung einer völligen Religionslosigkeit gewisser Völker", S. 416 ff.).

VI. Sprach-, religions- und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.
früheſte Form des Gottesbegriffs, ein wilder Lingam- oder Phallus-
cult, werde entſprochen haben, wagen Einige zu huldigen,1) während
Andre vor der Ziehung dieſer Conſequenz zurückſchrecken. Es iſt eine
ſeltſame Concordia discors, ein wildes Babel widerſtreitender Mei-
nungen, das ſich hier aufthut. Die Gründe aber, auf denen die
verſchiednen Theorien fußen, ſind wie überall auf dieſem Gebiete
nichts als übereilte Verallgemeinerungen, voreilige Rückſchlüſſe von
modernem Beobachtungsmaterial auf vermeintliche Urzuſtände, kühne
Geſchichtsconſtructionen und willkürliche Einfälle der bodenloſeſten Art.

Nur bei zweien dieſer Argumente mag hier etwas verweilt
werden, weil gerade auf ſie von Vielen unſrer Gegner ein Haupt-
gewicht gelegt worden iſt, während doch präciſere Feſtſtellung der That-
ſachen, auf welche ſie ſich beziehen, ſehr entſchieden gegen ihre Verwerth-
barkeit für naturaliſtiſchen Theorien vom Urſprunge der Religion ſpricht.

Eine Hauptrolle ſpielt im Räſonnement Lubbocks und ſeiner
Geiſtesverwandten, wozu wir namentlich auch einige deutſche Vor-
kämpfer des Deſcendenzglaubens wie Büchner, Vogt, Oscar Schmidt,
Moritz Wagner ꝛc. rechnen müſſen, die Behauptung vom Vorkommen
völlig religionsloſer Völker, nebſt der daraus gezogenen
Folgerung eines abſoluten Atheismus als der Urgrundlage aller
religionsgeſchichtlichen Entwicklung. Die Menſchheit ſoll den Proceß
ihres religiös-ethiſchen Vorſtellens und Bildens als vollſtändige
tabula rasa begonnen haben; das altübliche dogmatiſche Argument
vom Conſenſus aller Völker ſoll null und nichtig ſein, weil that-
ſächlich eine Reihe von neuerdings beobachteten wilden Stämmen
jeder Spur von religiöſen Begriffen, Ueberlieferungen und Ge-
bräuchen entbehre.2) — Hier iſt Beides gleich ſehr unerwieſen und

1) Baiſſac (Les origines de la religion, 2 vols., Paris 1876); Jules
Soury (Études historiques sur les religions, les arts, etc. Par. 1877),
Kuliſcher (a. a. O.) u. AA.
2) Speciellere Nachweiſe ſowohl über dieſe Behauptungen Lubbocks, Büch-
ners, Vogts ꝛc. als über das im Folgendenden dawider zu Bemerkende bietet
meine Schrift: Das Kreuz Chriſti ꝛc. 1875, (Excurs V: „Wider die Be-
hauptung einer völligen Religionsloſigkeit gewiſſer Völker‟, S. 416 ff.).
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[191/0201] VI. Sprach-, religions- und culturgeſchichtliche Jnſtanzen. früheſte Form des Gottesbegriffs, ein wilder Lingam- oder Phallus- cult, werde entſprochen haben, wagen Einige zu huldigen, 1) während Andre vor der Ziehung dieſer Conſequenz zurückſchrecken. Es iſt eine ſeltſame Concordia discors, ein wildes Babel widerſtreitender Mei- nungen, das ſich hier aufthut. Die Gründe aber, auf denen die verſchiednen Theorien fußen, ſind wie überall auf dieſem Gebiete nichts als übereilte Verallgemeinerungen, voreilige Rückſchlüſſe von modernem Beobachtungsmaterial auf vermeintliche Urzuſtände, kühne Geſchichtsconſtructionen und willkürliche Einfälle der bodenloſeſten Art. Nur bei zweien dieſer Argumente mag hier etwas verweilt werden, weil gerade auf ſie von Vielen unſrer Gegner ein Haupt- gewicht gelegt worden iſt, während doch präciſere Feſtſtellung der That- ſachen, auf welche ſie ſich beziehen, ſehr entſchieden gegen ihre Verwerth- barkeit für naturaliſtiſchen Theorien vom Urſprunge der Religion ſpricht. Eine Hauptrolle ſpielt im Räſonnement Lubbocks und ſeiner Geiſtesverwandten, wozu wir namentlich auch einige deutſche Vor- kämpfer des Deſcendenzglaubens wie Büchner, Vogt, Oscar Schmidt, Moritz Wagner ꝛc. rechnen müſſen, die Behauptung vom Vorkommen völlig religionsloſer Völker, nebſt der daraus gezogenen Folgerung eines abſoluten Atheismus als der Urgrundlage aller religionsgeſchichtlichen Entwicklung. Die Menſchheit ſoll den Proceß ihres religiös-ethiſchen Vorſtellens und Bildens als vollſtändige tabula rasa begonnen haben; das altübliche dogmatiſche Argument vom Conſenſus aller Völker ſoll null und nichtig ſein, weil that- ſächlich eine Reihe von neuerdings beobachteten wilden Stämmen jeder Spur von religiöſen Begriffen, Ueberlieferungen und Ge- bräuchen entbehre. 2) — Hier iſt Beides gleich ſehr unerwieſen und 1) Baiſſac (Les origines de la religion, 2 vols., Paris 1876); Jules Soury (Études historiques sur les religions, les arts, etc. Par. 1877), Kuliſcher (a. a. O.) u. AA. 2) Speciellere Nachweiſe ſowohl über dieſe Behauptungen Lubbocks, Büch- ners, Vogts ꝛc. als über das im Folgendenden dawider zu Bemerkende bietet meine Schrift: Das Kreuz Chriſti ꝛc. 1875, (Excurs V: „Wider die Be- hauptung einer völligen Religionsloſigkeit gewiſſer Völker‟, S. 416 ff.).

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/201>, abgerufen am 22.11.2024.