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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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I. Der Urstand nach kirchlicher Ueberlieferung.
angepaßte Betrachtungsweise: die Vorstellung eines Emporsteigens
der Menschheit durch die Lebensstufen der Kindheit, des Knaben-
und Jünglings-Alters zum vollen Mannesalter in Christo (vgl.
Eph. 4, 13) ersetzt oder ergänzt. So bei Tertullian, der, im Zu-
sammenhange mit seiner montanistisch-ascetischen Weltansicht, das
Patriarchenzeitalter als die rohe Kindheitsstufe oder das Säuglings-
alter der Menschheit darstellte, hierauf in der Zeit von Mose bis
auf Christum die auf der Stufe des Knabenalters stehende Mensch-
heit durchs Gesetz gebändigt werden, sodann den Erlöser das Jüng-
lingsalter und letztlich den heiligen Geist oder Paraklet das reife
Mannesalter herbeiführen läßt. Augustin nahm dieser Lebensalter-
Speculation, die er mit jenem Schema der sechs oder sieben Welt-
alter combinirte, ihren einseitig montanistischen, sectirerisch-enthusia-
stischen Character. Evolutionistisch geartet, eine auf- nicht absteigende
Tendenz der Menschheitsentwicklung ausdrückend, erscheint die Jdee
auch bei ihm. Gleichwie auch der eigentliche leitende Grundgedanke
seiner Geschichtsphilosophie, die Gegenüberstellung eines Weltreichs
und eines im Kampfe damit letzlich obsiegenden Gottesstaates, eine
progressistische oder evolutionistische Betrachtungsweise kundgibt.1)

Gerade die geschichtsphilosophische Speculation Augustins in
seinem großen Werke vom "Staat Gottes" zeigt aber auf lehrreiche
Weise das eigenthümliche Jneinanderspielen beider, der evolutioni-
stischen und der degradationistischen Vorstellungsweise. Gottesreich
und Weltreich liegen ja in einem langwierigen Kampfe miteinander,
und dieser Kampf beginnt sowohl jenseits der menschlichen Geschichte
in der Geisterwelt, als innerhalb der irdischen Entwicklung bei Adam,
mit einem Abfall, einem Entfallen von ursprünglicher lichter Höhe,
dem für die Menschheit wenigstens ein allmähliges langsames Wie-
deremporklimmen zu folgen hat. Diese langsam aufsteigende Be-
wegung vollzieht sich aber nur innerhalb des Gottesvolkes auf stetige,
wenn nicht unausgesetzt doch im Wesentlichen fortschreitende Weise,

1) Vgl. R. Rocholl, Die Philosophie der Geschichte, Darstellung und
Kritik der Versuche zu einem Aufbau derselben, Göttingen 1878, S. 24 f.

I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.
angepaßte Betrachtungsweiſe: die Vorſtellung eines Emporſteigens
der Menſchheit durch die Lebensſtufen der Kindheit, des Knaben-
und Jünglings-Alters zum vollen Mannesalter in Chriſto (vgl.
Eph. 4, 13) erſetzt oder ergänzt. So bei Tertullian, der, im Zu-
ſammenhange mit ſeiner montaniſtiſch-ascetiſchen Weltanſicht, das
Patriarchenzeitalter als die rohe Kindheitsſtufe oder das Säuglings-
alter der Menſchheit darſtellte, hierauf in der Zeit von Moſe bis
auf Chriſtum die auf der Stufe des Knabenalters ſtehende Menſch-
heit durchs Geſetz gebändigt werden, ſodann den Erlöſer das Jüng-
lingsalter und letztlich den heiligen Geiſt oder Paraklet das reife
Mannesalter herbeiführen läßt. Auguſtin nahm dieſer Lebensalter-
Speculation, die er mit jenem Schema der ſechs oder ſieben Welt-
alter combinirte, ihren einſeitig montaniſtiſchen, ſectireriſch-enthuſia-
ſtiſchen Character. Evolutioniſtiſch geartet, eine auf- nicht abſteigende
Tendenz der Menſchheitsentwicklung ausdrückend, erſcheint die Jdee
auch bei ihm. Gleichwie auch der eigentliche leitende Grundgedanke
ſeiner Geſchichtsphiloſophie, die Gegenüberſtellung eines Weltreichs
und eines im Kampfe damit letzlich obſiegenden Gottesſtaates, eine
progreſſiſtiſche oder evolutioniſtiſche Betrachtungsweiſe kundgibt.1)

Gerade die geſchichtsphiloſophiſche Speculation Auguſtins in
ſeinem großen Werke vom „Staat Gottes‟ zeigt aber auf lehrreiche
Weiſe das eigenthümliche Jneinanderſpielen beider, der evolutioni-
ſtiſchen und der degradationiſtiſchen Vorſtellungsweiſe. Gottesreich
und Weltreich liegen ja in einem langwierigen Kampfe miteinander,
und dieſer Kampf beginnt ſowohl jenſeits der menſchlichen Geſchichte
in der Geiſterwelt, als innerhalb der irdiſchen Entwicklung bei Adam,
mit einem Abfall, einem Entfallen von urſprünglicher lichter Höhe,
dem für die Menſchheit wenigſtens ein allmähliges langſames Wie-
deremporklimmen zu folgen hat. Dieſe langſam aufſteigende Be-
wegung vollzieht ſich aber nur innerhalb des Gottesvolkes auf ſtetige,
wenn nicht unausgeſetzt doch im Weſentlichen fortſchreitende Weiſe,

1) Vgl. R. Rocholl, Die Philoſophie der Geſchichte, Darſtellung und
Kritik der Verſuche zu einem Aufbau derſelben, Göttingen 1878, S. 24 f.
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[31/0041] I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung. angepaßte Betrachtungsweiſe: die Vorſtellung eines Emporſteigens der Menſchheit durch die Lebensſtufen der Kindheit, des Knaben- und Jünglings-Alters zum vollen Mannesalter in Chriſto (vgl. Eph. 4, 13) erſetzt oder ergänzt. So bei Tertullian, der, im Zu- ſammenhange mit ſeiner montaniſtiſch-ascetiſchen Weltanſicht, das Patriarchenzeitalter als die rohe Kindheitsſtufe oder das Säuglings- alter der Menſchheit darſtellte, hierauf in der Zeit von Moſe bis auf Chriſtum die auf der Stufe des Knabenalters ſtehende Menſch- heit durchs Geſetz gebändigt werden, ſodann den Erlöſer das Jüng- lingsalter und letztlich den heiligen Geiſt oder Paraklet das reife Mannesalter herbeiführen läßt. Auguſtin nahm dieſer Lebensalter- Speculation, die er mit jenem Schema der ſechs oder ſieben Welt- alter combinirte, ihren einſeitig montaniſtiſchen, ſectireriſch-enthuſia- ſtiſchen Character. Evolutioniſtiſch geartet, eine auf- nicht abſteigende Tendenz der Menſchheitsentwicklung ausdrückend, erſcheint die Jdee auch bei ihm. Gleichwie auch der eigentliche leitende Grundgedanke ſeiner Geſchichtsphiloſophie, die Gegenüberſtellung eines Weltreichs und eines im Kampfe damit letzlich obſiegenden Gottesſtaates, eine progreſſiſtiſche oder evolutioniſtiſche Betrachtungsweiſe kundgibt. 1) Gerade die geſchichtsphiloſophiſche Speculation Auguſtins in ſeinem großen Werke vom „Staat Gottes‟ zeigt aber auf lehrreiche Weiſe das eigenthümliche Jneinanderſpielen beider, der evolutioni- ſtiſchen und der degradationiſtiſchen Vorſtellungsweiſe. Gottesreich und Weltreich liegen ja in einem langwierigen Kampfe miteinander, und dieſer Kampf beginnt ſowohl jenſeits der menſchlichen Geſchichte in der Geiſterwelt, als innerhalb der irdiſchen Entwicklung bei Adam, mit einem Abfall, einem Entfallen von urſprünglicher lichter Höhe, dem für die Menſchheit wenigſtens ein allmähliges langſames Wie- deremporklimmen zu folgen hat. Dieſe langſam aufſteigende Be- wegung vollzieht ſich aber nur innerhalb des Gottesvolkes auf ſtetige, wenn nicht unausgeſetzt doch im Weſentlichen fortſchreitende Weiſe, 1) Vgl. R. Rocholl, Die Philoſophie der Geſchichte, Darſtellung und Kritik der Verſuche zu einem Aufbau derſelben, Göttingen 1878, S. 24 f.

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/41>, abgerufen am 21.11.2024.