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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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II. Die Schriftlehre vom Urstande.
daß allerdings ein Verlust der ursprünglich besessenen concentrirteren
Gottbildlichkeit des Paradieses zugleich mit dem Verlorengehen des
Paradieses selbst stattgefunden hat und daß nur eine in ihrer Energie
und Lebensfülle wesentlich herabgeminderte Gottbildlichkeit, ein
schwächerer Rest der uranfänglichen Glorie dem Menschen verblieben
ist. Gegen die Annahme, daß das verloren gegangene Plus gott-
bildlicher Lebenskräfte nichts Natürliches, dem Menschen als solchem
von Gott Anerschaffenes, sondern nur ein übernatürliches Gnaden-
geschenk, eine zu baldiger Wiederentziehung bestimmte Doxa jen-
seitigen Ursprungs gewesen sei, muß im Jnteresse eines gesunden
Schriftverständnisses entschieden protestirt werden. Weder diese ge-
künstelte Hinaufrückung des Verlierbaren am paradiesischen Gottes-
bilde in ein mystisches Jenseits, noch die damit zusammenhängende,
übrigens auch unabhängig von dem betreffenden scholastischen Dogma
von Vielen versuchte und noch bei der Mehrzahl unserer Refor-
matoren eine Hauptrolle spielende Steigerung der leiblichen Ver-
mögen und der Verstandeskräfte des noch nicht Gefallenen in's
Wunderbare fußen auf ächtem Schriftgrunde. Was verloren ist
vom Gottesbilde muß nothwendig analog gedacht werden dem, was
davon noch vorhanden ist. Erscheint dermalen unser Denken und
Erkennen auf organisch-natürlichen Grundlagen erwachsen und überall
an gewisse Vorbedingungen geknüpft, so muß dieß auch vor dem
Falle so gewesen sein; ist gegenwärtig der Jnbegriff unsrer Leibes-
und Seelenfunctionen ein dem Causalzusammenhange des irdischen
Naturlebens unterworfener, so wird er das auch damals schon ge-
wesen sein. Der Text der Paradiesesgeschichte deutet nichts davon
an, daß es sich vor dem Sündenfalle wesentlich anders hiermit ver-
halten habe, als nach demselben. Eine viel reichere Fülle von
äußeren Naturgütern als die nachmalige läßt er den noch ungefallen
Menschen freilich umgeben; aber davon daß Adam diesen Natur-
schätzen des Paradieses gegenüber eine etwaige höhere Wundermacht
in physischer oder intellectueller Hinsicht bethätigt, steht nichts zu
lesen. Seine Beziehungen zur Thierwelt, die ihm unterthan sein,

II. Die Schriftlehre vom Urſtande.
daß allerdings ein Verluſt der urſprünglich beſeſſenen concentrirteren
Gottbildlichkeit des Paradieſes zugleich mit dem Verlorengehen des
Paradieſes ſelbſt ſtattgefunden hat und daß nur eine in ihrer Energie
und Lebensfülle weſentlich herabgeminderte Gottbildlichkeit, ein
ſchwächerer Reſt der uranfänglichen Glorie dem Menſchen verblieben
iſt. Gegen die Annahme, daß das verloren gegangene Plus gott-
bildlicher Lebenskräfte nichts Natürliches, dem Menſchen als ſolchem
von Gott Anerſchaffenes, ſondern nur ein übernatürliches Gnaden-
geſchenk, eine zu baldiger Wiederentziehung beſtimmte Doxa jen-
ſeitigen Urſprungs geweſen ſei, muß im Jntereſſe eines geſunden
Schriftverſtändniſſes entſchieden proteſtirt werden. Weder dieſe ge-
künſtelte Hinaufrückung des Verlierbaren am paradieſiſchen Gottes-
bilde in ein myſtiſches Jenſeits, noch die damit zuſammenhängende,
übrigens auch unabhängig von dem betreffenden ſcholaſtiſchen Dogma
von Vielen verſuchte und noch bei der Mehrzahl unſerer Refor-
matoren eine Hauptrolle ſpielende Steigerung der leiblichen Ver-
mögen und der Verſtandeskräfte des noch nicht Gefallenen in’s
Wunderbare fußen auf ächtem Schriftgrunde. Was verloren iſt
vom Gottesbilde muß nothwendig analog gedacht werden dem, was
davon noch vorhanden iſt. Erſcheint dermalen unſer Denken und
Erkennen auf organiſch-natürlichen Grundlagen erwachſen und überall
an gewiſſe Vorbedingungen geknüpft, ſo muß dieß auch vor dem
Falle ſo geweſen ſein; iſt gegenwärtig der Jnbegriff unſrer Leibes-
und Seelenfunctionen ein dem Cauſalzuſammenhange des irdiſchen
Naturlebens unterworfener, ſo wird er das auch damals ſchon ge-
weſen ſein. Der Text der Paradieſesgeſchichte deutet nichts davon
an, daß es ſich vor dem Sündenfalle weſentlich anders hiermit ver-
halten habe, als nach demſelben. Eine viel reichere Fülle von
äußeren Naturgütern als die nachmalige läßt er den noch ungefallen
Menſchen freilich umgeben; aber davon daß Adam dieſen Natur-
ſchätzen des Paradieſes gegenüber eine etwaige höhere Wundermacht
in phyſiſcher oder intellectueller Hinſicht bethätigt, ſteht nichts zu
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[71/0081] II. Die Schriftlehre vom Urſtande. daß allerdings ein Verluſt der urſprünglich beſeſſenen concentrirteren Gottbildlichkeit des Paradieſes zugleich mit dem Verlorengehen des Paradieſes ſelbſt ſtattgefunden hat und daß nur eine in ihrer Energie und Lebensfülle weſentlich herabgeminderte Gottbildlichkeit, ein ſchwächerer Reſt der uranfänglichen Glorie dem Menſchen verblieben iſt. Gegen die Annahme, daß das verloren gegangene Plus gott- bildlicher Lebenskräfte nichts Natürliches, dem Menſchen als ſolchem von Gott Anerſchaffenes, ſondern nur ein übernatürliches Gnaden- geſchenk, eine zu baldiger Wiederentziehung beſtimmte Doxa jen- ſeitigen Urſprungs geweſen ſei, muß im Jntereſſe eines geſunden Schriftverſtändniſſes entſchieden proteſtirt werden. Weder dieſe ge- künſtelte Hinaufrückung des Verlierbaren am paradieſiſchen Gottes- bilde in ein myſtiſches Jenſeits, noch die damit zuſammenhängende, übrigens auch unabhängig von dem betreffenden ſcholaſtiſchen Dogma von Vielen verſuchte und noch bei der Mehrzahl unſerer Refor- matoren eine Hauptrolle ſpielende Steigerung der leiblichen Ver- mögen und der Verſtandeskräfte des noch nicht Gefallenen in’s Wunderbare fußen auf ächtem Schriftgrunde. Was verloren iſt vom Gottesbilde muß nothwendig analog gedacht werden dem, was davon noch vorhanden iſt. Erſcheint dermalen unſer Denken und Erkennen auf organiſch-natürlichen Grundlagen erwachſen und überall an gewiſſe Vorbedingungen geknüpft, ſo muß dieß auch vor dem Falle ſo geweſen ſein; iſt gegenwärtig der Jnbegriff unſrer Leibes- und Seelenfunctionen ein dem Cauſalzuſammenhange des irdiſchen Naturlebens unterworfener, ſo wird er das auch damals ſchon ge- weſen ſein. Der Text der Paradieſesgeſchichte deutet nichts davon an, daß es ſich vor dem Sündenfalle weſentlich anders hiermit ver- halten habe, als nach demſelben. Eine viel reichere Fülle von äußeren Naturgütern als die nachmalige läßt er den noch ungefallen Menſchen freilich umgeben; aber davon daß Adam dieſen Natur- ſchätzen des Paradieſes gegenüber eine etwaige höhere Wundermacht in phyſiſcher oder intellectueller Hinſicht bethätigt, ſteht nichts zu leſen. Seine Beziehungen zur Thierwelt, die ihm unterthan ſein,

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/81>, abgerufen am 21.11.2024.