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Zschokke, Heinrich: Der todte Gast. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [59]–219. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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schier ohnmächtig, und sie weinte und fluchte dem Ungetreuen. Vater und Mutter trösteten das arme Kind, und der Fremde redete viel holdselige Worte: Hätt' ich gewußt, daß der Schalksknecht mich zum Ueberbringer solcher Verzweiflung mache, so wahr ich bin der Graf von Gräbern, ich hätt' ihm den Johannissegen mit meinem guten Schwert ertheilt. Trocknet Eure schönen Augen, holdes Fräulein; eine einzige Thränenperle, die über Eure rosenrothen Wangen rinnt, ist genug, alle Flammen Eurer Liebe auszulöschen.

Aber Jacobea konnte nicht aufhören zu weinen. Der Graf entfernte sich endlich und bat um Erlaubniß, die schöne Leidende am folgenden Tage noch einmal besuchen zu können.

Er hielt auch Wort und kam, und da er mit Jacobea allein war, sprach er: Ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können, indem ich immer Eurer Schönheit und Eurer Thränen gedachte. Ihr seid mir wohl ein Lächeln schuldig, daß meine von Schlaflosigkeit blassen Wangen wieder Röthe gewinnen.

Wie kann ich lächeln? sagte Jacobea. Hat nicht der Ungetreue mir den Ring gesandt, das Herz umgewandt?

Der Graf nahm den Ring und warf ihn hinaus zum Fenster: Weg mit dem Ring! rief er. Wie gern ersetzt' ich ihn mit einem schönern! und er legte den prächtigsten Reif von seinen Fingern vor ihr auf den

schier ohnmächtig, und sie weinte und fluchte dem Ungetreuen. Vater und Mutter trösteten das arme Kind, und der Fremde redete viel holdselige Worte: Hätt' ich gewußt, daß der Schalksknecht mich zum Ueberbringer solcher Verzweiflung mache, so wahr ich bin der Graf von Gräbern, ich hätt' ihm den Johannissegen mit meinem guten Schwert ertheilt. Trocknet Eure schönen Augen, holdes Fräulein; eine einzige Thränenperle, die über Eure rosenrothen Wangen rinnt, ist genug, alle Flammen Eurer Liebe auszulöschen.

Aber Jacobea konnte nicht aufhören zu weinen. Der Graf entfernte sich endlich und bat um Erlaubniß, die schöne Leidende am folgenden Tage noch einmal besuchen zu können.

Er hielt auch Wort und kam, und da er mit Jacobea allein war, sprach er: Ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können, indem ich immer Eurer Schönheit und Eurer Thränen gedachte. Ihr seid mir wohl ein Lächeln schuldig, daß meine von Schlaflosigkeit blassen Wangen wieder Röthe gewinnen.

Wie kann ich lächeln? sagte Jacobea. Hat nicht der Ungetreue mir den Ring gesandt, das Herz umgewandt?

Der Graf nahm den Ring und warf ihn hinaus zum Fenster: Weg mit dem Ring! rief er. Wie gern ersetzt' ich ihn mit einem schönern! und er legte den prächtigsten Reif von seinen Fingern vor ihr auf den

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[0069] schier ohnmächtig, und sie weinte und fluchte dem Ungetreuen. Vater und Mutter trösteten das arme Kind, und der Fremde redete viel holdselige Worte: Hätt' ich gewußt, daß der Schalksknecht mich zum Ueberbringer solcher Verzweiflung mache, so wahr ich bin der Graf von Gräbern, ich hätt' ihm den Johannissegen mit meinem guten Schwert ertheilt. Trocknet Eure schönen Augen, holdes Fräulein; eine einzige Thränenperle, die über Eure rosenrothen Wangen rinnt, ist genug, alle Flammen Eurer Liebe auszulöschen. Aber Jacobea konnte nicht aufhören zu weinen. Der Graf entfernte sich endlich und bat um Erlaubniß, die schöne Leidende am folgenden Tage noch einmal besuchen zu können. Er hielt auch Wort und kam, und da er mit Jacobea allein war, sprach er: Ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können, indem ich immer Eurer Schönheit und Eurer Thränen gedachte. Ihr seid mir wohl ein Lächeln schuldig, daß meine von Schlaflosigkeit blassen Wangen wieder Röthe gewinnen. Wie kann ich lächeln? sagte Jacobea. Hat nicht der Ungetreue mir den Ring gesandt, das Herz umgewandt? Der Graf nahm den Ring und warf ihn hinaus zum Fenster: Weg mit dem Ring! rief er. Wie gern ersetzt' ich ihn mit einem schönern! und er legte den prächtigsten Reif von seinen Fingern vor ihr auf den

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T14:15:44Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T14:15:44Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Zschokke, Heinrich: Der todte Gast. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [59]–219. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zschokke_gast_1910/69>, abgerufen am 28.04.2024.