Es war am Vorabende des Weihnachtsfestes den 24. December 1788.
Tiefer Schnee lag in den Hohlwegen, wohl an zwölf Fuß hoch, und eine durchdringende Frost- luft machte die Fensterscheiben in der geheizten Stube gefrieren. Mitternacht war nahe, dennoch flimmerten überall matte Lichtchen aus den Schnee- hügeln, und in jedem Hause lagen die Einwohner auf den Knieen, um den Eintritt des heiligen Christ- festes mit Gebet zu erwarten, wie dies in katho- lischen Ländern Sitte ist, oder wenigstens damals allgemein war. Da bewegte sich von der Breder Höhe herab eine Gestalt langsam gegen das Dorf; der Wanderer schien sehr matt oder krank; er stöhnte schwer und schleppte sich äußerst mühsam durch den Schnee.
An der Mitte des Hanges stand er still, lehnte sich auf seinen Krückenstab und starrte unverwandt auf die Lichtpunkte. Es war so still überall, so todt und kalt; man mußte an Irrlichter auf Kirch- höfen denken. Nun schlug es zwölf im Thurm; der letzte Schlag verdröhnte langsam und im nächsten Hause erhob sich ein leiser Gesang, der, von Hause zu Hause schwellend, sich über das ganze Dorf zog:
Es war am Vorabende des Weihnachtsfeſtes den 24. December 1788.
Tiefer Schnee lag in den Hohlwegen, wohl an zwölf Fuß hoch, und eine durchdringende Froſt- luft machte die Fenſterſcheiben in der geheizten Stube gefrieren. Mitternacht war nahe, dennoch flimmerten überall matte Lichtchen aus den Schnee- hügeln, und in jedem Hauſe lagen die Einwohner auf den Knieen, um den Eintritt des heiligen Chriſt- feſtes mit Gebet zu erwarten, wie dies in katho- liſchen Ländern Sitte iſt, oder wenigſtens damals allgemein war. Da bewegte ſich von der Breder Höhe herab eine Geſtalt langſam gegen das Dorf; der Wanderer ſchien ſehr matt oder krank; er ſtöhnte ſchwer und ſchleppte ſich äußerſt mühſam durch den Schnee.
An der Mitte des Hanges ſtand er ſtill, lehnte ſich auf ſeinen Krückenſtab und ſtarrte unverwandt auf die Lichtpunkte. Es war ſo ſtill überall, ſo todt und kalt; man mußte an Irrlichter auf Kirch- höfen denken. Nun ſchlug es zwölf im Thurm; der letzte Schlag verdröhnte langſam und im nächſten Hauſe erhob ſich ein leiſer Geſang, der, von Hauſe zu Hauſe ſchwellend, ſich über das ganze Dorf zog:
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Es war am Vorabende des Weihnachtsfeſtes
den 24. December 1788.
Tiefer Schnee lag in den Hohlwegen, wohl
an zwölf Fuß hoch, und eine durchdringende Froſt-
luft machte die Fenſterſcheiben in der geheizten
Stube gefrieren. Mitternacht war nahe, dennoch
flimmerten überall matte Lichtchen aus den Schnee-
hügeln, und in jedem Hauſe lagen die Einwohner
auf den Knieen, um den Eintritt des heiligen Chriſt-
feſtes mit Gebet zu erwarten, wie dies in katho-
liſchen Ländern Sitte iſt, oder wenigſtens damals
allgemein war. Da bewegte ſich von der Breder
Höhe herab eine Geſtalt langſam gegen das Dorf;
der Wanderer ſchien ſehr matt oder krank; er ſtöhnte
ſchwer und ſchleppte ſich äußerſt mühſam durch den
Schnee.
An der Mitte des Hanges ſtand er ſtill, lehnte
ſich auf ſeinen Krückenſtab und ſtarrte unverwandt
auf die Lichtpunkte. Es war ſo ſtill überall, ſo
todt und kalt; man mußte an Irrlichter auf Kirch-
höfen denken. Nun ſchlug es zwölf im Thurm;
der letzte Schlag verdröhnte langſam und im nächſten
Hauſe erhob ſich ein leiſer Geſang, der, von
Hauſe zu Hauſe ſchwellend, ſich über das ganze
Dorf zog:
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Die "Letzten Gaben" (1860), postum von Levin Schü… [mehr]
Die "Letzten Gaben" (1860), postum von Levin Schücking aus dem Nachlass Annette von Droste-Hülshoffs herausgegeben, enthalten mehrere Texte, die zum Teil zu Lebzeiten der Autorin bereits andernorts veröffentlicht worden waren. Beispielsweise erschien Droste-Hülshoffs Novelle "Die Judenbuche" zuerst 1842 im "Morgenblatt für gebildete Leser"; die "Westfälischen Schilderungen" erschienen 1845 in den "Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland". Einzelne Gedichte sind in Journalen und Jahrbüchern erschienen, andere wurden aus dem Nachlass erstmals in der hier digitalisierten Edition von Levin Schücking veröffentlicht (z.B. die Gedichte "Der Nachtwanderer", "Doppeltgänger" und "Halt fest!"). In den meisten Fällen handelt es sich somit nicht um Erstveröffentlichungen der Texte, wohl aber um die erste Publikation in Buchform, weshalb die Nachlassedition für das DTA herangezogen wurde.
Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_letzte_1860/228>, abgerufen am 23.11.2024.
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