Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860.

Bild:
<< vorherige Seite
Ein Kindelein so löbelich
Ist uns geboren heute,
Von einer Jungfran säuberlich,
Deß freu'n sich alle Leute;
Und wär das Kindlein nicht gebor'n,
So wären wir alle zusammen verlor'n:
Das Heil ist unser Aller.
O du mein liebster Jesu Christ,
Der du als Mensch geboren bist,
Erlös uns von der Hölle!

Der Mann am Hange war in die Knie ge-
sunken und versuchte mit zitternder Stimme einzu-
fallen: es ward nur ein lautes Schluchzen daraus,
und schwere, heiße Tropfen fielen in den Schnee.
Die zweite Strophe begann; er betete leise mit;
dann die dritte und vierte. Das Lied war geendigt
und die Lichter in den Häusern begannen sich zu
bewegen. Da richtete der Mann sich mühselig auf
und schlich langsam hinab in das Dorf. An
mehrern Häusern keuchte er vorüber, dann stand
er vor einem still und pochte leise an.

"Was ist denn das?" sagte drinnen eine
Frauenstimme; "die Thüre klappert und der Wind
geht doch nicht." -- Er pochte stärker. -- "Um
Gotteswillen, laßt einen halberfrornen Menschen
ein, der aus der türkischen Sklaverei kommt!" --
Geflüster in der Küche. "Geht in's Wirthshaus,"
antwortete eine andere Stimme; "das fünfte Haus

Ein Kindelein ſo löbelich
Iſt uns geboren heute,
Von einer Jungfran ſäuberlich,
Deß freu’n ſich alle Leute;
Und wär das Kindlein nicht gebor’n,
So wären wir alle zuſammen verlor’n:
Das Heil iſt unſer Aller.
O du mein liebſter Jeſu Chriſt,
Der du als Menſch geboren biſt,
Erlös uns von der Hölle!

Der Mann am Hange war in die Knie ge-
ſunken und verſuchte mit zitternder Stimme einzu-
fallen: es ward nur ein lautes Schluchzen daraus,
und ſchwere, heiße Tropfen fielen in den Schnee.
Die zweite Strophe begann; er betete leiſe mit;
dann die dritte und vierte. Das Lied war geendigt
und die Lichter in den Häuſern begannen ſich zu
bewegen. Da richtete der Mann ſich mühſelig auf
und ſchlich langſam hinab in das Dorf. An
mehrern Häuſern keuchte er vorüber, dann ſtand
er vor einem ſtill und pochte leiſe an.

„Was iſt denn das?“ ſagte drinnen eine
Frauenſtimme; „die Thüre klappert und der Wind
geht doch nicht.“ — Er pochte ſtärker. — „Um
Gotteswillen, laßt einen halberfrornen Menſchen
ein, der aus der türkiſchen Sklaverei kommt!“ —
Geflüſter in der Küche. „Geht in’s Wirthshaus,“
antwortete eine andere Stimme; „das fünfte Haus

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0229" n="213"/>
        <lg type="poem">
          <l>Ein Kindelein &#x017F;o löbelich</l><lb/>
          <l>I&#x017F;t uns geboren heute,</l><lb/>
          <l>Von einer Jungfran &#x017F;äuberlich,</l><lb/>
          <l>Deß freu&#x2019;n &#x017F;ich alle Leute;</l><lb/>
          <l>Und wär das Kindlein nicht gebor&#x2019;n,</l><lb/>
          <l>So wären wir alle zu&#x017F;ammen verlor&#x2019;n:</l><lb/>
          <l>Das Heil i&#x017F;t un&#x017F;er Aller.</l><lb/>
          <l>O du mein lieb&#x017F;ter Je&#x017F;u Chri&#x017F;t,</l><lb/>
          <l>Der du als Men&#x017F;ch geboren bi&#x017F;t,</l><lb/>
          <l>Erlös uns von der Hölle!</l>
        </lg><lb/>
        <p>Der Mann am Hange war in die Knie ge-<lb/>
&#x017F;unken und ver&#x017F;uchte mit zitternder Stimme einzu-<lb/>
fallen: es ward nur ein lautes Schluchzen daraus,<lb/>
und &#x017F;chwere, heiße Tropfen fielen in den Schnee.<lb/>
Die zweite Strophe begann; er betete lei&#x017F;e mit;<lb/>
dann die dritte und vierte. Das Lied war geendigt<lb/>
und die Lichter in den Häu&#x017F;ern begannen &#x017F;ich zu<lb/>
bewegen. Da richtete der Mann &#x017F;ich müh&#x017F;elig auf<lb/>
und &#x017F;chlich lang&#x017F;am hinab in das Dorf. An<lb/>
mehrern Häu&#x017F;ern keuchte er vorüber, dann &#x017F;tand<lb/>
er vor einem &#x017F;till und pochte lei&#x017F;e an.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Was i&#x017F;t denn das?&#x201C; &#x017F;agte drinnen eine<lb/>
Frauen&#x017F;timme; &#x201E;die Thüre klappert und der Wind<lb/>
geht doch nicht.&#x201C; &#x2014; Er pochte &#x017F;tärker. &#x2014; &#x201E;Um<lb/>
Gotteswillen, laßt einen halberfrornen Men&#x017F;chen<lb/>
ein, der aus der türki&#x017F;chen Sklaverei kommt!&#x201C; &#x2014;<lb/>
Geflü&#x017F;ter in der Küche. &#x201E;Geht in&#x2019;s Wirthshaus,&#x201C;<lb/>
antwortete eine andere Stimme; &#x201E;das fünfte Haus<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[213/0229] Ein Kindelein ſo löbelich Iſt uns geboren heute, Von einer Jungfran ſäuberlich, Deß freu’n ſich alle Leute; Und wär das Kindlein nicht gebor’n, So wären wir alle zuſammen verlor’n: Das Heil iſt unſer Aller. O du mein liebſter Jeſu Chriſt, Der du als Menſch geboren biſt, Erlös uns von der Hölle! Der Mann am Hange war in die Knie ge- ſunken und verſuchte mit zitternder Stimme einzu- fallen: es ward nur ein lautes Schluchzen daraus, und ſchwere, heiße Tropfen fielen in den Schnee. Die zweite Strophe begann; er betete leiſe mit; dann die dritte und vierte. Das Lied war geendigt und die Lichter in den Häuſern begannen ſich zu bewegen. Da richtete der Mann ſich mühſelig auf und ſchlich langſam hinab in das Dorf. An mehrern Häuſern keuchte er vorüber, dann ſtand er vor einem ſtill und pochte leiſe an. „Was iſt denn das?“ ſagte drinnen eine Frauenſtimme; „die Thüre klappert und der Wind geht doch nicht.“ — Er pochte ſtärker. — „Um Gotteswillen, laßt einen halberfrornen Menſchen ein, der aus der türkiſchen Sklaverei kommt!“ — Geflüſter in der Küche. „Geht in’s Wirthshaus,“ antwortete eine andere Stimme; „das fünfte Haus

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Die "Letzten Gaben" (1860), postum von Levin Schü… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/droste_letzte_1860
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/droste_letzte_1860/229
Zitationshilfe: Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_letzte_1860/229>, abgerufen am 23.11.2024.