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Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860.

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wärts wieder niederzufallen, und uns im Vorübergehen
mit einem weissagenden Auge, "oculo torvo sini-
stroque
" zu betrachten. Aus den einzelnen Wach-
holderbüschen dringt das klagende, mövenartige
Geschrill der jungen Kibitze, die wie Taucher-Vögel
im Schilf in ihrem stachlichen Asyle umschlüpfen,
und bald hier bald dort ihre Federbüschel hervor-
strecken. Dann noch etwa jede Meile eine Hütte,
vor deren Thür ein paar Kinder sich im Sande
wälzen und Käfer fangen, und allenfalls ein wan-
dernder Naturforscher, der neben seinem überfüllten
Tornister kniet und lächelnd die zierlich versteinerten
Muscheln und Seeigel betrachtet, die wie Modelle
einer früheren Schöpfung hier überall verstreut lie-
gen, -- und wir haben Alles genannt, was eine
lange Tagereise hindurch eine Gegend belebt, die
keine andere Poesie aufzuweisen hat, als die einer
fast jungfräulichen Einsamkeit, und einer weichen,
traumhaften Beleuchtung, in der sich die Flügel der
Phantasie unwillkürlich entfalten. Allmählich bereiten
sich indessen freundlichere Bilder vor, -- zerstreute
Grasflächen in den Niederungen, häufigere und
frischere Baumgruppen begrüßen uns als Vorposten
nahender Fruchtbarkeit, und bald befinden wir uns
in dem Herzen des Münsterlandes, in einer Gegend,
die so anmuthig ist, wie der gänzliche Mangel an
Gebirgen, Felsen und belebten Strömen dieses nur

wärts wieder niederzufallen, und uns im Vorübergehen
mit einem weiſſagenden Auge, „oculo torvo sini-
stroque
“ zu betrachten. Aus den einzelnen Wach-
holderbüſchen dringt das klagende, mövenartige
Geſchrill der jungen Kibitze, die wie Taucher-Vögel
im Schilf in ihrem ſtachlichen Aſyle umſchlüpfen,
und bald hier bald dort ihre Federbüſchel hervor-
ſtrecken. Dann noch etwa jede Meile eine Hütte,
vor deren Thür ein paar Kinder ſich im Sande
wälzen und Käfer fangen, und allenfalls ein wan-
dernder Naturforſcher, der neben ſeinem überfüllten
Torniſter kniet und lächelnd die zierlich verſteinerten
Muſcheln und Seeigel betrachtet, die wie Modelle
einer früheren Schöpfung hier überall verſtreut lie-
gen, — und wir haben Alles genannt, was eine
lange Tagereiſe hindurch eine Gegend belebt, die
keine andere Poeſie aufzuweiſen hat, als die einer
faſt jungfräulichen Einſamkeit, und einer weichen,
traumhaften Beleuchtung, in der ſich die Flügel der
Phantaſie unwillkürlich entfalten. Allmählich bereiten
ſich indeſſen freundlichere Bilder vor, — zerſtreute
Grasflächen in den Niederungen, häufigere und
friſchere Baumgruppen begrüßen uns als Vorpoſten
nahender Fruchtbarkeit, und bald befinden wir uns
in dem Herzen des Münſterlandes, in einer Gegend,
die ſo anmuthig iſt, wie der gänzliche Mangel an
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[234/0250] wärts wieder niederzufallen, und uns im Vorübergehen mit einem weiſſagenden Auge, „oculo torvo sini- stroque“ zu betrachten. Aus den einzelnen Wach- holderbüſchen dringt das klagende, mövenartige Geſchrill der jungen Kibitze, die wie Taucher-Vögel im Schilf in ihrem ſtachlichen Aſyle umſchlüpfen, und bald hier bald dort ihre Federbüſchel hervor- ſtrecken. Dann noch etwa jede Meile eine Hütte, vor deren Thür ein paar Kinder ſich im Sande wälzen und Käfer fangen, und allenfalls ein wan- dernder Naturforſcher, der neben ſeinem überfüllten Torniſter kniet und lächelnd die zierlich verſteinerten Muſcheln und Seeigel betrachtet, die wie Modelle einer früheren Schöpfung hier überall verſtreut lie- gen, — und wir haben Alles genannt, was eine lange Tagereiſe hindurch eine Gegend belebt, die keine andere Poeſie aufzuweiſen hat, als die einer faſt jungfräulichen Einſamkeit, und einer weichen, traumhaften Beleuchtung, in der ſich die Flügel der Phantaſie unwillkürlich entfalten. Allmählich bereiten ſich indeſſen freundlichere Bilder vor, — zerſtreute Grasflächen in den Niederungen, häufigere und friſchere Baumgruppen begrüßen uns als Vorpoſten nahender Fruchtbarkeit, und bald befinden wir uns in dem Herzen des Münſterlandes, in einer Gegend, die ſo anmuthig iſt, wie der gänzliche Mangel an Gebirgen, Felſen und belebten Strömen dieſes nur

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Zitationshilfe: Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_letzte_1860/250>, abgerufen am 23.11.2024.