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Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807.

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same Arabeske war das Geschlecht verwachsen unten
mit dem Blumenreich und oben mit dem Himmelreich,
und es sangen alle Vögel in den Zweigen, und die
Kinder spielten in den Blumen, und es rührten schöne
Frauen die Laute in den Schirmen, und es hasteten
geharnischte Ritter durch das Dickigt, und kämpften
mit Serpenten, und Eremiten knieten betend,
und auf bunten Libellen trieben die Scherze sich umher,
es giengen Löwen stolz und freudig an der Minne
Zügel, und das ganze Gewächs tränkte Himmelsthau
und der Erde Mark, in dem sich auch die Rebe nährt.

Und wo ist all dies freudige Leben hingekommen,
hat es in der Erde Klüfte sich gezogen, um zum neuen
Springquell sich zu sammeln, sind die Zeiten alt gewor-
den und senken sie kraftlos das graue Haupt der Erde
zu? Nachdem jene hochpoetische Zeit vorüber war, da
begann noch einmal jener glühende Feuer- und Farben-
regen, in den die wiederauflebende Mahlerei in Italien
und in Teutschland und den Niederlanden sich aufge-
löst; es waren die fallenden Sterne vor dem jüngsten
Tag der Kunst, und nachdem die großen Genien der
neuern aufgestanden und wieder hingegangen waren,
nachdem Shakespeare das offne Himmelsthor geschlossen
hatte, da erfolgte Todesstille und Verkehrtheit auf lange
hin: der Antichrist war nun gebohren. Denn ewig beherrscht

ſame Arabeske war das Geſchlecht verwachſen unten
mit dem Blumenreich und oben mit dem Himmelreich,
und es ſangen alle Vögel in den Zweigen, und die
Kinder ſpielten in den Blumen, und es rührten ſchöne
Frauen die Laute in den Schirmen, und es haſteten
geharniſchte Ritter durch das Dickigt, und kämpften
mit Serpenten, und Eremiten knieten betend,
und auf bunten Libellen trieben die Scherze ſich umher,
es giengen Löwen ſtolz und freudig an der Minne
Zügel, und das ganze Gewächs tränkte Himmelsthau
und der Erde Mark, in dem ſich auch die Rebe nährt.

Und wo iſt all dies freudige Leben hingekommen,
hat es in der Erde Klüfte ſich gezogen, um zum neuen
Springquell ſich zu ſammeln, ſind die Zeiten alt gewor-
den und ſenken ſie kraftlos das graue Haupt der Erde
zu? Nachdem jene hochpoetiſche Zeit vorüber war, da
begann noch einmal jener glühende Feuer- und Farben-
regen, in den die wiederauflebende Mahlerei in Italien
und in Teutſchland und den Niederlanden ſich aufge-
löſt; es waren die fallenden Sterne vor dem jüngſten
Tag der Kunſt, und nachdem die großen Genien der
neuern aufgeſtanden und wieder hingegangen waren,
nachdem Shakespeare das offne Himmelsthor geſchloſſen
hatte, da erfolgte Todesſtille und Verkehrtheit auf lange
hin: der Antichriſt war nun gebohren. Denn ewig beherrſcht

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[296/0314] ſame Arabeske war das Geſchlecht verwachſen unten mit dem Blumenreich und oben mit dem Himmelreich, und es ſangen alle Vögel in den Zweigen, und die Kinder ſpielten in den Blumen, und es rührten ſchöne Frauen die Laute in den Schirmen, und es haſteten geharniſchte Ritter durch das Dickigt, und kämpften mit Serpenten, und Eremiten knieten betend, und auf bunten Libellen trieben die Scherze ſich umher, es giengen Löwen ſtolz und freudig an der Minne Zügel, und das ganze Gewächs tränkte Himmelsthau und der Erde Mark, in dem ſich auch die Rebe nährt. Und wo iſt all dies freudige Leben hingekommen, hat es in der Erde Klüfte ſich gezogen, um zum neuen Springquell ſich zu ſammeln, ſind die Zeiten alt gewor- den und ſenken ſie kraftlos das graue Haupt der Erde zu? Nachdem jene hochpoetiſche Zeit vorüber war, da begann noch einmal jener glühende Feuer- und Farben- regen, in den die wiederauflebende Mahlerei in Italien und in Teutſchland und den Niederlanden ſich aufge- löſt; es waren die fallenden Sterne vor dem jüngſten Tag der Kunſt, und nachdem die großen Genien der neuern aufgeſtanden und wieder hingegangen waren, nachdem Shakespeare das offne Himmelsthor geſchloſſen hatte, da erfolgte Todesſtille und Verkehrtheit auf lange hin: der Antichriſt war nun gebohren. Denn ewig beherrſcht

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Zitationshilfe: Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807/314>, abgerufen am 18.05.2024.