Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hauff, Wilhelm: Phantasien im Bremer Rathskeller. Stuttgart, 1827.

Bild:
<< vorherige Seite

punkte in der Geschichte seines Lebens so all¬
täglich vor, daß er darüber hinweg gleitet ohne
Erinnerung. Und doch ist es gut, wenn die
Seele, sonst immer nach aussen gerichtet, auch
einmal auf ein paar Stunden einkehrt im ei¬
genen Gasthof ihrer Brust, sich bewirthet an
der langen Table d'Hote der Erinnerung und
nachher gewissenhaft die Rechnung ad notam
schreibt, wie Frau Hurtig dem Ritter. Der
Großvater nannte solche Tage seine Schalttage.
Nicht daß er etwa ein Banket veranstaltete mit
seinen Freunden, oder den Tag lustig und in
Freuden lebte, in Saus und Brauß; nein, er
kehrte ein bei sich, und seine Seele schmaußte
in der Kammer, die sie seit fünf und siebzig
Jahre kannte. Noch jetzt, da er längst im küh¬
len Friedhof ruht, noch jetzt kann ich es seinem
holländischen Horaz ansehen, welche Stellen
er an solchen Tagen gelesen; noch jetzt, als
wäre es gestern geschehen, sehe ich sein großes

punkte in der Geſchichte ſeines Lebens ſo all¬
taͤglich vor, daß er daruͤber hinweg gleitet ohne
Erinnerung. Und doch iſt es gut, wenn die
Seele, ſonſt immer nach auſſen gerichtet, auch
einmal auf ein paar Stunden einkehrt im ei¬
genen Gaſthof ihrer Bruſt, ſich bewirthet an
der langen Table d'Hôte der Erinnerung und
nachher gewiſſenhaft die Rechnung ad notam
ſchreibt, wie Frau Hurtig dem Ritter. Der
Großvater nannte ſolche Tage ſeine Schalttage.
Nicht daß er etwa ein Banket veranſtaltete mit
ſeinen Freunden, oder den Tag luſtig und in
Freuden lebte, in Saus und Brauß; nein, er
kehrte ein bei ſich, und ſeine Seele ſchmaußte
in der Kammer, die ſie ſeit fuͤnf und ſiebzig
Jahre kannte. Noch jetzt, da er laͤngſt im kuͤh¬
len Friedhof ruht, noch jetzt kann ich es ſeinem
hollaͤndiſchen Horaz anſehen, welche Stellen
er an ſolchen Tagen geleſen; noch jetzt, als
waͤre es geſtern geſchehen, ſehe ich ſein großes

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0016" n="10"/>
punkte in der Ge&#x017F;chichte &#x017F;eines Lebens &#x017F;o all¬<lb/>
ta&#x0364;glich vor, daß er daru&#x0364;ber hinweg gleitet ohne<lb/>
Erinnerung. Und doch i&#x017F;t es gut, wenn die<lb/>
Seele, &#x017F;on&#x017F;t immer nach au&#x017F;&#x017F;en gerichtet, auch<lb/>
einmal auf ein paar Stunden einkehrt im ei¬<lb/>
genen Ga&#x017F;thof ihrer Bru&#x017F;t, &#x017F;ich bewirthet an<lb/>
der langen Table d'Hôte der Erinnerung und<lb/>
nachher gewi&#x017F;&#x017F;enhaft die Rechnung <hi rendition="#aq">ad notam</hi><lb/>
&#x017F;chreibt, wie Frau Hurtig dem Ritter. Der<lb/>
Großvater nannte &#x017F;olche Tage &#x017F;eine Schalttage.<lb/>
Nicht daß er etwa ein Banket veran&#x017F;taltete mit<lb/>
&#x017F;einen Freunden, oder den Tag lu&#x017F;tig und in<lb/>
Freuden lebte, in Saus und Brauß; nein, er<lb/>
kehrte ein bei &#x017F;ich, und &#x017F;eine Seele &#x017F;chmaußte<lb/>
in der Kammer, die &#x017F;ie &#x017F;eit fu&#x0364;nf und &#x017F;iebzig<lb/>
Jahre kannte. Noch jetzt, da er la&#x0364;ng&#x017F;t im ku&#x0364;<lb/>
len Friedhof ruht, noch jetzt kann ich es &#x017F;einem<lb/>
holla&#x0364;ndi&#x017F;chen Horaz an&#x017F;ehen, welche Stellen<lb/>
er an &#x017F;olchen Tagen gele&#x017F;en; noch jetzt, als<lb/>
wa&#x0364;re es ge&#x017F;tern ge&#x017F;chehen, &#x017F;ehe ich &#x017F;ein großes<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[10/0016] punkte in der Geſchichte ſeines Lebens ſo all¬ taͤglich vor, daß er daruͤber hinweg gleitet ohne Erinnerung. Und doch iſt es gut, wenn die Seele, ſonſt immer nach auſſen gerichtet, auch einmal auf ein paar Stunden einkehrt im ei¬ genen Gaſthof ihrer Bruſt, ſich bewirthet an der langen Table d'Hôte der Erinnerung und nachher gewiſſenhaft die Rechnung ad notam ſchreibt, wie Frau Hurtig dem Ritter. Der Großvater nannte ſolche Tage ſeine Schalttage. Nicht daß er etwa ein Banket veranſtaltete mit ſeinen Freunden, oder den Tag luſtig und in Freuden lebte, in Saus und Brauß; nein, er kehrte ein bei ſich, und ſeine Seele ſchmaußte in der Kammer, die ſie ſeit fuͤnf und ſiebzig Jahre kannte. Noch jetzt, da er laͤngſt im kuͤh¬ len Friedhof ruht, noch jetzt kann ich es ſeinem hollaͤndiſchen Horaz anſehen, welche Stellen er an ſolchen Tagen geleſen; noch jetzt, als waͤre es geſtern geſchehen, ſehe ich ſein großes

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hauff_phantasien_1827
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hauff_phantasien_1827/16
Zitationshilfe: Hauff, Wilhelm: Phantasien im Bremer Rathskeller. Stuttgart, 1827, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hauff_phantasien_1827/16>, abgerufen am 03.12.2024.