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Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905.

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Zucht seiner Lehre gestanden hat, wesentlich heimischer fühlen
könnte, als zu Jerusalem, wo er weinen mußte: "Ihr habt
nicht gewollt"?

Es wäre natürlich ein lächerliches Schlagwort einer ver-
bohrten Frauenrechtlerin, sogenanntes "Altjungferntum" schlimm-
ster Sorte, wollte ich diese hochbedenklichen Erscheinungen, daß
alle Erkenntnisse öffentlich das Ziel zu haben scheinen, den
brutalen Willen zur Macht, die ungezügelte Herrschaft des
Uebermenschentums zu stärken; daß alle Errungenschaften um-
gebogen werden zu Kampfmitteln für Selbstbehauptung, Herren-
recht; daß immer deutlicher und schonungsloser das Gesetz ge-
predigt wird: erlaubt ist, was gefällt! immer scheuer die
Forderung sich zurückzieht: erlaubt ist, was sich ziemt!
-- wollte ich das alles so kurzweg darauf zurückführen, daß die
"edle deutsche Frau" in unsrer Kultur zu kurz komme
und zu wenig zu sagen habe. Mit frauenrechtlerischen Schlag-
worten ist dieser Not ebensowenig abzuhelfen, als sie zu ver-
schleiern ist durch den satten Philistertrost, daß in dieser besten
aller Welten stets nur Kampfgesetze das Dasein geregelt haben,
und daß die Ideale dazu da seien, darüber zu dichten und zu
denken. Aber es dringt immer lebhafter, mit immer größerer
instinktiver Sicherheit in den Besten der Zeit die Erkenntnis
durch, daß in unserm Volk zu viel geistige Schulung und zu
wenig sittlicher Wille herrscht. Freude am Wissen, Sehnsucht
nach Erkennen, Uebung des Intellekts, Richtung auf das
äußere und innere Sichdurchsetzen, also alles das innerlich
flutende Leben, das auf Erfassen von Machtmitteln drängt,
das ist allein geschult, geübt, gestärkt worden, alle andere
tiefere Seelenkraft hat man ungeübt und ungeschult dem
dunkeln Triebleben überlassen oder unter die blinde Macht
des ewig Gestrigen, unter die tote Autorität des Herkömm-
lichen gebeugt, also von zielbewußter Entwickelung ausge-
schlossen. Unsre öffentliche Erziehung ist mit einem Netz von
Berechtigungen überzogen wie mit grauen Herbstspinn-

Zucht seiner Lehre gestanden hat, wesentlich heimischer fühlen
könnte, als zu Jerusalem, wo er weinen mußte: „Ihr habt
nicht gewollt“?

Es wäre natürlich ein lächerliches Schlagwort einer ver-
bohrten Frauenrechtlerin, sogenanntes „Altjungferntum“ schlimm-
ster Sorte, wollte ich diese hochbedenklichen Erscheinungen, daß
alle Erkenntnisse öffentlich das Ziel zu haben scheinen, den
brutalen Willen zur Macht, die ungezügelte Herrschaft des
Uebermenschentums zu stärken; daß alle Errungenschaften um-
gebogen werden zu Kampfmitteln für Selbstbehauptung, Herren-
recht; daß immer deutlicher und schonungsloser das Gesetz ge-
predigt wird: erlaubt ist, was gefällt! immer scheuer die
Forderung sich zurückzieht: erlaubt ist, was sich ziemt!
— wollte ich das alles so kurzweg darauf zurückführen, daß die
edle deutsche Frau“ in unsrer Kultur zu kurz komme
und zu wenig zu sagen habe. Mit frauenrechtlerischen Schlag-
worten ist dieser Not ebensowenig abzuhelfen, als sie zu ver-
schleiern ist durch den satten Philistertrost, daß in dieser besten
aller Welten stets nur Kampfgesetze das Dasein geregelt haben,
und daß die Ideale dazu da seien, darüber zu dichten und zu
denken. Aber es dringt immer lebhafter, mit immer größerer
instinktiver Sicherheit in den Besten der Zeit die Erkenntnis
durch, daß in unserm Volk zu viel geistige Schulung und zu
wenig sittlicher Wille herrscht. Freude am Wissen, Sehnsucht
nach Erkennen, Uebung des Intellekts, Richtung auf das
äußere und innere Sichdurchsetzen, also alles das innerlich
flutende Leben, das auf Erfassen von Machtmitteln drängt,
das ist allein geschult, geübt, gestärkt worden, alle andere
tiefere Seelenkraft hat man ungeübt und ungeschult dem
dunkeln Triebleben überlassen oder unter die blinde Macht
des ewig Gestrigen, unter die tote Autorität des Herkömm-
lichen gebeugt, also von zielbewußter Entwickelung ausge-
schlossen. Unsre öffentliche Erziehung ist mit einem Netz von
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[7/0010] Zucht seiner Lehre gestanden hat, wesentlich heimischer fühlen könnte, als zu Jerusalem, wo er weinen mußte: „Ihr habt nicht gewollt“? Es wäre natürlich ein lächerliches Schlagwort einer ver- bohrten Frauenrechtlerin, sogenanntes „Altjungferntum“ schlimm- ster Sorte, wollte ich diese hochbedenklichen Erscheinungen, daß alle Erkenntnisse öffentlich das Ziel zu haben scheinen, den brutalen Willen zur Macht, die ungezügelte Herrschaft des Uebermenschentums zu stärken; daß alle Errungenschaften um- gebogen werden zu Kampfmitteln für Selbstbehauptung, Herren- recht; daß immer deutlicher und schonungsloser das Gesetz ge- predigt wird: erlaubt ist, was gefällt! immer scheuer die Forderung sich zurückzieht: erlaubt ist, was sich ziemt! — wollte ich das alles so kurzweg darauf zurückführen, daß die „edle deutsche Frau“ in unsrer Kultur zu kurz komme und zu wenig zu sagen habe. Mit frauenrechtlerischen Schlag- worten ist dieser Not ebensowenig abzuhelfen, als sie zu ver- schleiern ist durch den satten Philistertrost, daß in dieser besten aller Welten stets nur Kampfgesetze das Dasein geregelt haben, und daß die Ideale dazu da seien, darüber zu dichten und zu denken. Aber es dringt immer lebhafter, mit immer größerer instinktiver Sicherheit in den Besten der Zeit die Erkenntnis durch, daß in unserm Volk zu viel geistige Schulung und zu wenig sittlicher Wille herrscht. Freude am Wissen, Sehnsucht nach Erkennen, Uebung des Intellekts, Richtung auf das äußere und innere Sichdurchsetzen, also alles das innerlich flutende Leben, das auf Erfassen von Machtmitteln drängt, das ist allein geschult, geübt, gestärkt worden, alle andere tiefere Seelenkraft hat man ungeübt und ungeschult dem dunkeln Triebleben überlassen oder unter die blinde Macht des ewig Gestrigen, unter die tote Autorität des Herkömm- lichen gebeugt, also von zielbewußter Entwickelung ausge- schlossen. Unsre öffentliche Erziehung ist mit einem Netz von Berechtigungen überzogen wie mit grauen Herbstspinn-

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Zitationshilfe: Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frauenbildung_1905/10>, abgerufen am 21.11.2024.