Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905.fäden; unser öffentliches Leben ist eingepreßt in ein totes Denn wir haben die edelsten Seiten des Seelenlebens, in fäden; unser öffentliches Leben ist eingepreßt in ein totes Denn wir haben die edelsten Seiten des Seelenlebens, in <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0011" n="8"/> fäden; unser öffentliches Leben ist eingepreßt in ein totes<lb/> Rang- und Kastensystem, ist zerklüftet in Parteiinteressen und<lb/> wird verbraucht in sogenannten nationalen Interessen, in welt-<lb/> politischen, konfessionellen Macht fragen. Gibt es auch noch<lb/> eine einzige wahre Kulturfrage, die um ihrer selbst willen,<lb/> um der inneren und sittlichen Entwickelung unseres deutschen<lb/> Volkes willen angefaßt und gelöst würde? Alles läuft auf<lb/> Kuhhandel unter den Parteien, auf politisch-taktische Macht-<lb/> fragen, auf Gruppierung der Kräfte für ein äußerliches, wirt-<lb/> schaftliches Sichdurchsetzen hinaus. Macht, Karriere, Aner-<lb/> kennung, Reichtum: das sind die Götter, denen wir dienen.<lb/> Und da wir uns weise dünkten, sind wir zu Narren gewor-<lb/> den, streberhaft kletternd und aufbauschend, byzantinisch kriechend<lb/> und unfrei in der Seele.</p><lb/> <p>Denn wir haben die edelsten Seiten des Seelenlebens, in<lb/> denen die Wurzeln der Volkskraft stecken, nicht zu erziehen<lb/> verstanden; es ist keine Harmonie der Bildung, keine freie<lb/> schöne Persönlichkeitskultur entwickelt. Wir erzogen das <hi rendition="#g">Wissen</hi><lb/> und <hi rendition="#g">Denken</hi> und nicht das <hi rendition="#g">Fühlen</hi>; wir erzogen dann,<lb/> als uns Deutschen das Glück lächelte und wir stark wurden<lb/> als Volk, das <hi rendition="#g">äußere Handeln</hi> und nicht zugleich das<lb/><hi rendition="#g">innere Wollen</hi>. Es ist ja also ganz natürlich, daß<lb/> Deutschland nicht verstand, seine Frauen mit heraufzuheben<lb/> und an dem Wachsen der Kultur teilnehmen zu lassen. Wir<lb/> dürfen es dem deutschen Michel gar nicht übel nehmen, daß<lb/> er die Frauenbildung in unglaublicher Weise öffentlich ver-<lb/> nachlässigt und privatim in verhängnisvoll falsche Bahnen<lb/> leitete. Es war wirklich kein böser Wille, denn der Deutsche<lb/> hat vielleicht am allerehrlichsten stets die Absicht gehabt, seine<lb/> Frauen zu ehren. Es verstand's nicht besser; ein Schelm gibt<lb/> mehr als er hat. Alles das, was das eigentümliche Leben<lb/> und die treibende Kraft der <hi rendition="#g">Frauenseele</hi> ausmacht, das<lb/> breit und tief flutende Gefühlsleben, der zäh emporkletternde<lb/> Wille, <hi rendition="#g">das</hi> sind gerade die Seiten des Seelenlebens, mit denen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [8/0011]
fäden; unser öffentliches Leben ist eingepreßt in ein totes
Rang- und Kastensystem, ist zerklüftet in Parteiinteressen und
wird verbraucht in sogenannten nationalen Interessen, in welt-
politischen, konfessionellen Macht fragen. Gibt es auch noch
eine einzige wahre Kulturfrage, die um ihrer selbst willen,
um der inneren und sittlichen Entwickelung unseres deutschen
Volkes willen angefaßt und gelöst würde? Alles läuft auf
Kuhhandel unter den Parteien, auf politisch-taktische Macht-
fragen, auf Gruppierung der Kräfte für ein äußerliches, wirt-
schaftliches Sichdurchsetzen hinaus. Macht, Karriere, Aner-
kennung, Reichtum: das sind die Götter, denen wir dienen.
Und da wir uns weise dünkten, sind wir zu Narren gewor-
den, streberhaft kletternd und aufbauschend, byzantinisch kriechend
und unfrei in der Seele.
Denn wir haben die edelsten Seiten des Seelenlebens, in
denen die Wurzeln der Volkskraft stecken, nicht zu erziehen
verstanden; es ist keine Harmonie der Bildung, keine freie
schöne Persönlichkeitskultur entwickelt. Wir erzogen das Wissen
und Denken und nicht das Fühlen; wir erzogen dann,
als uns Deutschen das Glück lächelte und wir stark wurden
als Volk, das äußere Handeln und nicht zugleich das
innere Wollen. Es ist ja also ganz natürlich, daß
Deutschland nicht verstand, seine Frauen mit heraufzuheben
und an dem Wachsen der Kultur teilnehmen zu lassen. Wir
dürfen es dem deutschen Michel gar nicht übel nehmen, daß
er die Frauenbildung in unglaublicher Weise öffentlich ver-
nachlässigt und privatim in verhängnisvoll falsche Bahnen
leitete. Es war wirklich kein böser Wille, denn der Deutsche
hat vielleicht am allerehrlichsten stets die Absicht gehabt, seine
Frauen zu ehren. Es verstand's nicht besser; ein Schelm gibt
mehr als er hat. Alles das, was das eigentümliche Leben
und die treibende Kraft der Frauenseele ausmacht, das
breit und tief flutende Gefühlsleben, der zäh emporkletternde
Wille, das sind gerade die Seiten des Seelenlebens, mit denen
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(2013-06-11T19:37:41Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Thomas Gloning, Melanie Henß: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2013-06-11T19:37:41Z)
Internet Archive: Bereitstellung der Bilddigitalisate.
(2013-06-11T19:37:41Z)
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