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Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905.

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eine allzu männliche, rein der geistigen Struktur des Mannes
angepaßte, sowohl in ihren Idealen als in ihren Formen und
ihrem Geschehen, und Frauenart hat zu wenig teil
daran
. Betrachten wir sie genau, soweit sich eine einheit-
liche Haupterscheinungsform neben allen flutenden Unterströ-
mungen fassen läßt. Untersuchen wir die Werte, die unser
öffentliches Leben beherrschen. Eine hohe intellektuelle
Blüte, neue Erkenntnisse von überraschender Klarheit, schöpfe-
rische Erfindungen von größtem Lebenswert, höchste praktische
Tüchtigkeit, eine Energie des Wissens und Könnens wie nie
vorher, eine ungeahnte Schnelligkeit und Kraft der Ent-
wickelungen: alles so recht der vorwärtsdrängenden Natur des
Mannes entsprechende Erscheinungen, die Geschlossenheit und
hohes Zielbewußtsein verraten. Wie könnte man sich an dieser
kraftvollen Kultur freuen! Aber daneben? Ist unsre geistige
Kultur auch ebenso in die Tiefe gedrungen, wie sie die Höhen
erklommen hat? Umflutet sie kraftvoll strömend alle Volks-
kreise und hebt die einzelnen hinauf zu der Höhe ausge-
prägter Persönlichkeiten? Haben die geistigen Er-
oberungen die Erkenntnis zu verbreiten vermocht, daß nie-
mand für sich selbst auf der Welt ist? Wenn es wahre, un-
gemischte Werte wären, die die Menschheit sich denkend und
forschend und vorwärtsstrebend errungen hat, so hätten sie
die Erkenntnis erweitern und vertiefen müssen, daß der
Sirenengesang von dem "Sichausleben" nur die Parodie sein
kann zu der ernstesten Forderung: bestimme dich aus
dir selbst!
, die Kehrseite der hohen Wahrheit, daß jeder
sein Maß in sich selbst suchen muß. Es müßte in der Welt
von Persönlichkeiten wimmeln, die kein Schein blendet, keine
Versuchung lockt, keine äußere Macht beugen kann, weil sie
ihr Lebensideal sich selbständig herausgearbeitet und die Kraft
gewonnen haben, es zu verfolgen. Wenn Christus heute
wiederkäme, ob er sich wohl in unserm so hoch angelegten
deutschen Herrenvolk, das fast 1500 Jahre offiziell unter der

eine allzu männliche, rein der geistigen Struktur des Mannes
angepaßte, sowohl in ihren Idealen als in ihren Formen und
ihrem Geschehen, und Frauenart hat zu wenig teil
daran
. Betrachten wir sie genau, soweit sich eine einheit-
liche Haupterscheinungsform neben allen flutenden Unterströ-
mungen fassen läßt. Untersuchen wir die Werte, die unser
öffentliches Leben beherrschen. Eine hohe intellektuelle
Blüte, neue Erkenntnisse von überraschender Klarheit, schöpfe-
rische Erfindungen von größtem Lebenswert, höchste praktische
Tüchtigkeit, eine Energie des Wissens und Könnens wie nie
vorher, eine ungeahnte Schnelligkeit und Kraft der Ent-
wickelungen: alles so recht der vorwärtsdrängenden Natur des
Mannes entsprechende Erscheinungen, die Geschlossenheit und
hohes Zielbewußtsein verraten. Wie könnte man sich an dieser
kraftvollen Kultur freuen! Aber daneben? Ist unsre geistige
Kultur auch ebenso in die Tiefe gedrungen, wie sie die Höhen
erklommen hat? Umflutet sie kraftvoll strömend alle Volks-
kreise und hebt die einzelnen hinauf zu der Höhe ausge-
prägter Persönlichkeiten? Haben die geistigen Er-
oberungen die Erkenntnis zu verbreiten vermocht, daß nie-
mand für sich selbst auf der Welt ist? Wenn es wahre, un-
gemischte Werte wären, die die Menschheit sich denkend und
forschend und vorwärtsstrebend errungen hat, so hätten sie
die Erkenntnis erweitern und vertiefen müssen, daß der
Sirenengesang von dem „Sichausleben“ nur die Parodie sein
kann zu der ernstesten Forderung: bestimme dich aus
dir selbst!
, die Kehrseite der hohen Wahrheit, daß jeder
sein Maß in sich selbst suchen muß. Es müßte in der Welt
von Persönlichkeiten wimmeln, die kein Schein blendet, keine
Versuchung lockt, keine äußere Macht beugen kann, weil sie
ihr Lebensideal sich selbständig herausgearbeitet und die Kraft
gewonnen haben, es zu verfolgen. Wenn Christus heute
wiederkäme, ob er sich wohl in unserm so hoch angelegten
deutschen Herrenvolk, das fast 1500 Jahre offiziell unter der

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[6/0009] eine allzu männliche, rein der geistigen Struktur des Mannes angepaßte, sowohl in ihren Idealen als in ihren Formen und ihrem Geschehen, und Frauenart hat zu wenig teil daran. Betrachten wir sie genau, soweit sich eine einheit- liche Haupterscheinungsform neben allen flutenden Unterströ- mungen fassen läßt. Untersuchen wir die Werte, die unser öffentliches Leben beherrschen. Eine hohe intellektuelle Blüte, neue Erkenntnisse von überraschender Klarheit, schöpfe- rische Erfindungen von größtem Lebenswert, höchste praktische Tüchtigkeit, eine Energie des Wissens und Könnens wie nie vorher, eine ungeahnte Schnelligkeit und Kraft der Ent- wickelungen: alles so recht der vorwärtsdrängenden Natur des Mannes entsprechende Erscheinungen, die Geschlossenheit und hohes Zielbewußtsein verraten. Wie könnte man sich an dieser kraftvollen Kultur freuen! Aber daneben? Ist unsre geistige Kultur auch ebenso in die Tiefe gedrungen, wie sie die Höhen erklommen hat? Umflutet sie kraftvoll strömend alle Volks- kreise und hebt die einzelnen hinauf zu der Höhe ausge- prägter Persönlichkeiten? Haben die geistigen Er- oberungen die Erkenntnis zu verbreiten vermocht, daß nie- mand für sich selbst auf der Welt ist? Wenn es wahre, un- gemischte Werte wären, die die Menschheit sich denkend und forschend und vorwärtsstrebend errungen hat, so hätten sie die Erkenntnis erweitern und vertiefen müssen, daß der Sirenengesang von dem „Sichausleben“ nur die Parodie sein kann zu der ernstesten Forderung: bestimme dich aus dir selbst!, die Kehrseite der hohen Wahrheit, daß jeder sein Maß in sich selbst suchen muß. Es müßte in der Welt von Persönlichkeiten wimmeln, die kein Schein blendet, keine Versuchung lockt, keine äußere Macht beugen kann, weil sie ihr Lebensideal sich selbständig herausgearbeitet und die Kraft gewonnen haben, es zu verfolgen. Wenn Christus heute wiederkäme, ob er sich wohl in unserm so hoch angelegten deutschen Herrenvolk, das fast 1500 Jahre offiziell unter der

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Projekt: Texte zur Frauenfrage um 1900 Gießen/Kassel: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-06-11T19:37:41Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frauenbildung_1905/9>, abgerufen am 26.04.2024.