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Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905.

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und ihren wahren Inhalt können sie nicht erfassen. Was
Wunder, wenn die meisten von Begehrlichkeit, Unsittlichkeit,
Stumpfheit und Haß zerfressen werden und diese Gifte weiter
verbreiten im Volkskörper, dem Tod entgegen? Wenn nun
in einem Volke alle Frauenkreise unter unnatürlichen Lebens-
bedingungen stehen, die einen vor Arbeitsmangel, die andern vor
Arbeitslast nicht dazu kommen können, in die tiefern Lebens-
werte mit gesunder Kraft und ruhiger Einsicht einzudringen,
dann ist doch recht eigentlich die Quelle der Volks-
kraft trübe geworden
und in Gefahr, zu versiechen.
Der Zugang zu den Müttern ist gesperrt, die Kraft und die
Freude des Muttertums geht verloren, und die allererste Be-
dingung für die Möglichkeit, der Zukunft ein gesundes, glück-
liches Jugendgeschlecht zuzuführen, ist unterbunden. Die Sorge
um die sozialen Gefahren, die immer dunkler von unten auf-
steigen und von allen Seiten die Gesellschaft zu überfluten
drohen, um das Verderben der oberen Schichten zu hohlem
Strebertum und unwahrem Scheingepränge, um die Spaltung
der Stände, die Kluft zwischen Regierenden und Regierten,
um das Schwinden der religiösen und sittlichen Werte nimmt
dem Denkenden heute fast den Atem. Der eine will die Ge-
fahren durch feste Autoritäten, der andre durch Soldaten und
Polizei, der dritte durch Rechte, der vierte durch Freiheit und
Gleichheit auf allen Gebieten, der fünfte durch Wissenschaft
und Kunst beschwören. So zerarbeiten und zersorgen sich die
Führer aller Kreise, die ein Herz für ihr Volk haben. Nur
auf den einfachen Gedanken wollen die meisten nicht kommen
und weisen ihn mit Energie von sich, sowie er an sie heran-
tritt: daß nämlich eine Kultur krank werden und in einem
bestimmten Stadium welken muß, wenn zu all den gefähr-
lichen Rissen und Klüften noch die eine furchtbare Gefahr
kommt, daß zwischen den geistigen Welten der Geschlechter
ein Spalt entsteht, der nicht mehr überbrückt werden kann.
Und diese Not ist an uns herangekrochen. Unsre Kultur ist

und ihren wahren Inhalt können sie nicht erfassen. Was
Wunder, wenn die meisten von Begehrlichkeit, Unsittlichkeit,
Stumpfheit und Haß zerfressen werden und diese Gifte weiter
verbreiten im Volkskörper, dem Tod entgegen? Wenn nun
in einem Volke alle Frauenkreise unter unnatürlichen Lebens-
bedingungen stehen, die einen vor Arbeitsmangel, die andern vor
Arbeitslast nicht dazu kommen können, in die tiefern Lebens-
werte mit gesunder Kraft und ruhiger Einsicht einzudringen,
dann ist doch recht eigentlich die Quelle der Volks-
kraft trübe geworden
und in Gefahr, zu versiechen.
Der Zugang zu den Müttern ist gesperrt, die Kraft und die
Freude des Muttertums geht verloren, und die allererste Be-
dingung für die Möglichkeit, der Zukunft ein gesundes, glück-
liches Jugendgeschlecht zuzuführen, ist unterbunden. Die Sorge
um die sozialen Gefahren, die immer dunkler von unten auf-
steigen und von allen Seiten die Gesellschaft zu überfluten
drohen, um das Verderben der oberen Schichten zu hohlem
Strebertum und unwahrem Scheingepränge, um die Spaltung
der Stände, die Kluft zwischen Regierenden und Regierten,
um das Schwinden der religiösen und sittlichen Werte nimmt
dem Denkenden heute fast den Atem. Der eine will die Ge-
fahren durch feste Autoritäten, der andre durch Soldaten und
Polizei, der dritte durch Rechte, der vierte durch Freiheit und
Gleichheit auf allen Gebieten, der fünfte durch Wissenschaft
und Kunst beschwören. So zerarbeiten und zersorgen sich die
Führer aller Kreise, die ein Herz für ihr Volk haben. Nur
auf den einfachen Gedanken wollen die meisten nicht kommen
und weisen ihn mit Energie von sich, sowie er an sie heran-
tritt: daß nämlich eine Kultur krank werden und in einem
bestimmten Stadium welken muß, wenn zu all den gefähr-
lichen Rissen und Klüften noch die eine furchtbare Gefahr
kommt, daß zwischen den geistigen Welten der Geschlechter
ein Spalt entsteht, der nicht mehr überbrückt werden kann.
Und diese Not ist an uns herangekrochen. Unsre Kultur ist

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[5/0008] und ihren wahren Inhalt können sie nicht erfassen. Was Wunder, wenn die meisten von Begehrlichkeit, Unsittlichkeit, Stumpfheit und Haß zerfressen werden und diese Gifte weiter verbreiten im Volkskörper, dem Tod entgegen? Wenn nun in einem Volke alle Frauenkreise unter unnatürlichen Lebens- bedingungen stehen, die einen vor Arbeitsmangel, die andern vor Arbeitslast nicht dazu kommen können, in die tiefern Lebens- werte mit gesunder Kraft und ruhiger Einsicht einzudringen, dann ist doch recht eigentlich die Quelle der Volks- kraft trübe geworden und in Gefahr, zu versiechen. Der Zugang zu den Müttern ist gesperrt, die Kraft und die Freude des Muttertums geht verloren, und die allererste Be- dingung für die Möglichkeit, der Zukunft ein gesundes, glück- liches Jugendgeschlecht zuzuführen, ist unterbunden. Die Sorge um die sozialen Gefahren, die immer dunkler von unten auf- steigen und von allen Seiten die Gesellschaft zu überfluten drohen, um das Verderben der oberen Schichten zu hohlem Strebertum und unwahrem Scheingepränge, um die Spaltung der Stände, die Kluft zwischen Regierenden und Regierten, um das Schwinden der religiösen und sittlichen Werte nimmt dem Denkenden heute fast den Atem. Der eine will die Ge- fahren durch feste Autoritäten, der andre durch Soldaten und Polizei, der dritte durch Rechte, der vierte durch Freiheit und Gleichheit auf allen Gebieten, der fünfte durch Wissenschaft und Kunst beschwören. So zerarbeiten und zersorgen sich die Führer aller Kreise, die ein Herz für ihr Volk haben. Nur auf den einfachen Gedanken wollen die meisten nicht kommen und weisen ihn mit Energie von sich, sowie er an sie heran- tritt: daß nämlich eine Kultur krank werden und in einem bestimmten Stadium welken muß, wenn zu all den gefähr- lichen Rissen und Klüften noch die eine furchtbare Gefahr kommt, daß zwischen den geistigen Welten der Geschlechter ein Spalt entsteht, der nicht mehr überbrückt werden kann. Und diese Not ist an uns herangekrochen. Unsre Kultur ist

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Zitationshilfe: Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frauenbildung_1905/8>, abgerufen am 21.11.2024.