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Moritz, Karl Philipp: Über die bildende Nachahmung des Schönen. Braunschweig, 1788.

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Wäre aber der Schauspieler, den wir hier vor
uns sehen, nicht Schauspieler, sondern irgend einer aus
dem Volke, der dem Sokrates, welchem er sich in¬
nerlich schon ähnlich dünckte, nun auch im Aeusfern,
in Gang, Stellung und Gebehrden, im Ernst nach¬
zuahmen suchte; so würden wir von diesem Thoren
sagen: er äfft dem Sokrates nach; oder, er verhält
sich zum Sokrates ohngefähr so, wie der Affe, in sei¬
nen possierlichen Stellungen und Gebehrden, sich zum
Menschen verhält.

Der Schauspieler also schliesst den Weisen aus,
und parodiert nur den Sokrates; denn die Weisheit
lässt sich nicht parodieren: der Weise schliesst in sei¬
ner Nachahmung den Sokrates aus, und ahmt in ihm
nur den Weisen nach; denn die Individualität des So¬
krates kann wohl parodiert und nachgeäfft, aber nie
nachgeahmt werden. Der Thor hat keinen Sinn für
die Weisheit und hat doch Nachahmungstrieb: er er¬
greift also, was ihm am nächsten liegt; äfft nach, um
nicht nachahmen zu dürfen; trägt die ganze Oberflä¬
che einer fremden Individualität auf die seinige über,
und die Basis oder das Selbstgefühl dazu legt ihm seine
Thorheit unter.

Wir sehen also aus dem Sprachgebrauch, dass Nach¬
ahmen, im edlern moralischen Sinn, mit den Begrif¬
fen von nachstreben und wetteifern fast gleichbedeu¬
tend wird; weil die Tugend, welche ich z. B. in ei¬
nem gewissen Vorbilde nachahme, etwas Allgemein¬
nes, über die Individualität Erhabnes ist, das von jeder¬

mann,

Wäre aber der Schauſpieler, den wir hier vor
uns ſehen, nicht Schauſpieler, ſondern irgend einer aus
dem Volke, der dem Sokrates, welchem er ſich in¬
nerlich ſchon ähnlich dünckte, nun auch im Aeusfern,
in Gang, Stellung und Gebehrden, im Ernſt nach¬
zuahmen ſuchte; ſo würden wir von dieſem Thoren
ſagen: er äfft dem Sokrates nach; oder, er verhält
ſich zum Sokrates ohngefähr ſo, wie der Affe, in ſei¬
nen posſierlichen Stellungen und Gebehrden, ſich zum
Menſchen verhält.

Der Schauſpieler alſo ſchlieſst den Weiſen aus,
und parodiert nur den Sokrates; denn die Weisheit
läſst ſich nicht parodieren: der Weiſe ſchlieſst in ſei¬
ner Nachahmung den Sokrates aus, und ahmt in ihm
nur den Weiſen nach; denn die Individualität des So¬
krates kann wohl parodiert und nachgeäfft, aber nie
nachgeahmt werden. Der Thor hat keinen Sinn für
die Weisheit und hat doch Nachahmungstrieb: er er¬
greift alſo, was ihm am nächſten liegt; äfft nach, um
nicht nachahmen zu dürfen; trägt die ganze Oberflä¬
che einer fremden Individualität auf die ſeinige über,
und die Baſis oder das Selbſtgefühl dazu legt ihm ſeine
Thorheit unter.

Wir ſehen alſo aus dem Sprachgebrauch, daſs Nach¬
ahmen, im edlern moraliſchen Sinn, mit den Begrif¬
fen von nachſtreben und wetteifern faſt gleichbedeu¬
tend wird; weil die Tugend, welche ich z. B. in ei¬
nem gewisſen Vorbilde nachahme, etwas Allgemein¬
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[4/0010] Wäre aber der Schauſpieler, den wir hier vor uns ſehen, nicht Schauſpieler, ſondern irgend einer aus dem Volke, der dem Sokrates, welchem er ſich in¬ nerlich ſchon ähnlich dünckte, nun auch im Aeusfern, in Gang, Stellung und Gebehrden, im Ernſt nach¬ zuahmen ſuchte; ſo würden wir von dieſem Thoren ſagen: er äfft dem Sokrates nach; oder, er verhält ſich zum Sokrates ohngefähr ſo, wie der Affe, in ſei¬ nen posſierlichen Stellungen und Gebehrden, ſich zum Menſchen verhält. Der Schauſpieler alſo ſchlieſst den Weiſen aus, und parodiert nur den Sokrates; denn die Weisheit läſst ſich nicht parodieren: der Weiſe ſchlieſst in ſei¬ ner Nachahmung den Sokrates aus, und ahmt in ihm nur den Weiſen nach; denn die Individualität des So¬ krates kann wohl parodiert und nachgeäfft, aber nie nachgeahmt werden. Der Thor hat keinen Sinn für die Weisheit und hat doch Nachahmungstrieb: er er¬ greift alſo, was ihm am nächſten liegt; äfft nach, um nicht nachahmen zu dürfen; trägt die ganze Oberflä¬ che einer fremden Individualität auf die ſeinige über, und die Baſis oder das Selbſtgefühl dazu legt ihm ſeine Thorheit unter. Wir ſehen alſo aus dem Sprachgebrauch, daſs Nach¬ ahmen, im edlern moraliſchen Sinn, mit den Begrif¬ fen von nachſtreben und wetteifern faſt gleichbedeu¬ tend wird; weil die Tugend, welche ich z. B. in ei¬ nem gewisſen Vorbilde nachahme, etwas Allgemein¬ nes, über die Individualität Erhabnes iſt, das von jeder¬ mann,

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Über die bildende Nachahmung des Schönen. Braunschweig, 1788, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_nachahmung_1788/10>, abgerufen am 20.04.2024.