Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

massen auch unsere heutigen Enthusiasten
schneiden; ihre Wuth mag übrigens religiös,
poetisch, patriotisch, sentimentalisch, phy-
siognomisch, oder von welcher Art und
Beschaffenheit seyn als sie will: so ist sie
immer mehr tönendes Erz und klingende
Schelle, mehr Wortausströhmung als Aus-
ströhmung allgewaltiger Herzgefühle; mehr
tändelnder Modekram als Schwing- und
Stoßkraft der Seele. Jst daher kein Wun-
der, wenn unsre süßliche ätherische Schwär-
merey so lammsartiger Natur ist, daß sie
sich von dem Verfolgungsgeist ganz losge-
schirrt hat, und solchergestalt mit unsern
schwärmerischen Zeiten die Toleranz, welche
ist eine Frucht kaltblütiger philosophischer
Untersuchung, eben so wohl bestehen kann,
als eine coquette Modetracht bey einem den-
noch unverdorbnen Herzen. Und wenn
auch jemand darwider einwenden wollt',
die Schwärmerey sey ihrer alten Tück un-

ver-

maſſen auch unſere heutigen Enthuſiaſten
ſchneiden; ihre Wuth mag uͤbrigens religioͤs,
poetiſch, patriotiſch, ſentimentaliſch, phy-
ſiognomiſch, oder von welcher Art und
Beſchaffenheit ſeyn als ſie will: ſo iſt ſie
immer mehr toͤnendes Erz und klingende
Schelle, mehr Wortausſtroͤhmung als Aus-
ſtroͤhmung allgewaltiger Herzgefuͤhle; mehr
taͤndelnder Modekram als Schwing- und
Stoßkraft der Seele. Jſt daher kein Wun-
der, wenn unſre ſuͤßliche aͤtheriſche Schwaͤr-
merey ſo lammsartiger Natur iſt, daß ſie
ſich von dem Verfolgungsgeiſt ganz losge-
ſchirrt hat, und ſolchergeſtalt mit unſern
ſchwaͤrmeriſchen Zeiten die Toleranz, welche
iſt eine Frucht kaltbluͤtiger philoſophiſcher
Unterſuchung, eben ſo wohl beſtehen kann,
als eine coquette Modetracht bey einem den-
noch unverdorbnen Herzen. Und wenn
auch jemand darwider einwenden wollt’,
die Schwaͤrmerey ſey ihrer alten Tuͤck un-

ver-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0114" n="114"/>
ma&#x017F;&#x017F;en auch un&#x017F;ere heutigen Enthu&#x017F;ia&#x017F;ten<lb/>
&#x017F;chneiden; ihre Wuth mag u&#x0364;brigens religio&#x0364;s,<lb/>
poeti&#x017F;ch, patrioti&#x017F;ch, &#x017F;entimentali&#x017F;ch, phy-<lb/>
&#x017F;iognomi&#x017F;ch, oder von welcher Art und<lb/>
Be&#x017F;chaffenheit &#x017F;eyn als &#x017F;ie will: &#x017F;o i&#x017F;t &#x017F;ie<lb/>
immer mehr to&#x0364;nendes Erz und klingende<lb/>
Schelle, mehr Wortaus&#x017F;tro&#x0364;hmung als Aus-<lb/>
&#x017F;tro&#x0364;hmung allgewaltiger Herzgefu&#x0364;hle; mehr<lb/>
ta&#x0364;ndelnder Modekram als Schwing- und<lb/>
Stoßkraft der Seele. J&#x017F;t daher kein Wun-<lb/>
der, wenn un&#x017F;re &#x017F;u&#x0364;ßliche a&#x0364;theri&#x017F;che Schwa&#x0364;r-<lb/>
merey &#x017F;o lammsartiger Natur i&#x017F;t, daß &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ich von dem Verfolgungsgei&#x017F;t ganz losge-<lb/>
&#x017F;chirrt hat, und &#x017F;olcherge&#x017F;talt mit un&#x017F;ern<lb/>
&#x017F;chwa&#x0364;rmeri&#x017F;chen Zeiten die Toleranz, welche<lb/>
i&#x017F;t eine Frucht kaltblu&#x0364;tiger philo&#x017F;ophi&#x017F;cher<lb/>
Unter&#x017F;uchung, eben &#x017F;o wohl be&#x017F;tehen kann,<lb/>
als eine coquette Modetracht bey einem den-<lb/>
noch unverdorbnen Herzen. Und wenn<lb/>
auch jemand darwider einwenden wollt&#x2019;,<lb/>
die Schwa&#x0364;rmerey &#x017F;ey ihrer alten Tu&#x0364;ck un-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ver-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[114/0114] maſſen auch unſere heutigen Enthuſiaſten ſchneiden; ihre Wuth mag uͤbrigens religioͤs, poetiſch, patriotiſch, ſentimentaliſch, phy- ſiognomiſch, oder von welcher Art und Beſchaffenheit ſeyn als ſie will: ſo iſt ſie immer mehr toͤnendes Erz und klingende Schelle, mehr Wortausſtroͤhmung als Aus- ſtroͤhmung allgewaltiger Herzgefuͤhle; mehr taͤndelnder Modekram als Schwing- und Stoßkraft der Seele. Jſt daher kein Wun- der, wenn unſre ſuͤßliche aͤtheriſche Schwaͤr- merey ſo lammsartiger Natur iſt, daß ſie ſich von dem Verfolgungsgeiſt ganz losge- ſchirrt hat, und ſolchergeſtalt mit unſern ſchwaͤrmeriſchen Zeiten die Toleranz, welche iſt eine Frucht kaltbluͤtiger philoſophiſcher Unterſuchung, eben ſo wohl beſtehen kann, als eine coquette Modetracht bey einem den- noch unverdorbnen Herzen. Und wenn auch jemand darwider einwenden wollt’, die Schwaͤrmerey ſey ihrer alten Tuͤck un- ver-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen02_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen02_1778/114
Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen02_1778/114>, abgerufen am 21.05.2024.