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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 8. Göttingen, 1753.

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Polly Horton war die Tochter einer Frau
von Stande, und gutem Herkommen; deren
Ehemann, ein Mann von Familie und Anse-
hen, Hauptmann unter der Königlichen Leib-
Garde war.

Er starb, da Polly ungefähr ihr neuntes
Jahr erreichet, und hinterließ sie, nebst einem
hinlänglichen Vermögen für sie beide, der Vor-
sorge ihrer Mutter, einer lebhaften jungen Da-
me von etwa sechs und zwanzig Jahren.

Die Mutter liebte ihre Polly über die ma-
ßen; aber es war ihr nicht gegeben, durch ei-
ne genaue Aufsicht und sorgfältige Erziehung,
die wahre und ächte Liebe einer Mutter zu zeigen.
Sie putzte sich, gab Besuche, und ward wie-
der von den muntersten Personen ihres Ge-
schlechts besucht. Jhre Augen schweiften al-
lenthalben herum, gleich einer Frau, die Lust
hat, ihr Glück im Ehestande zum zweiten mal
zu versuchen.

Dies gewöhnte sie zu solchen Manieren, und
zu einer Liebe von solchen Lustbarkeiten, die ei-
ne junge Wittwe, von dem lebhaften Wesen,
zu aller Erziehung, selbst ihrer eignen Tochter,
ganz und gar ungeschickt machen.

Frau Horton hatte von Jugend auf eine
Neigung zur Music und zur Lesung solcher Bü-
cher gehabt, welche für junge Gemüther nur
eine frühere Art von Ausschweifungen ist, die
sie zu grössern in reifern Jahren zubereitet, nem-
lich zu Romanen, verliebten Histörgen, Liedern

und


Polly Horton war die Tochter einer Frau
von Stande, und gutem Herkommen; deren
Ehemann, ein Mann von Familie und Anſe-
hen, Hauptmann unter der Koͤniglichen Leib-
Garde war.

Er ſtarb, da Polly ungefaͤhr ihr neuntes
Jahr erreichet, und hinterließ ſie, nebſt einem
hinlaͤnglichen Vermoͤgen fuͤr ſie beide, der Vor-
ſorge ihrer Mutter, einer lebhaften jungen Da-
me von etwa ſechs und zwanzig Jahren.

Die Mutter liebte ihre Polly uͤber die ma-
ßen; aber es war ihr nicht gegeben, durch ei-
ne genaue Aufſicht und ſorgfaͤltige Erziehung,
die wahre und aͤchte Liebe einer Mutter zu zeigen.
Sie putzte ſich, gab Beſuche, und ward wie-
der von den munterſten Perſonen ihres Ge-
ſchlechts beſucht. Jhre Augen ſchweiften al-
lenthalben herum, gleich einer Frau, die Luſt
hat, ihr Gluͤck im Eheſtande zum zweiten mal
zu verſuchen.

Dies gewoͤhnte ſie zu ſolchen Manieren, und
zu einer Liebe von ſolchen Luſtbarkeiten, die ei-
ne junge Wittwe, von dem lebhaften Weſen,
zu aller Erziehung, ſelbſt ihrer eignen Tochter,
ganz und gar ungeſchickt machen.

Frau Horton hatte von Jugend auf eine
Neigung zur Muſic und zur Leſung ſolcher Buͤ-
cher gehabt, welche fuͤr junge Gemuͤther nur
eine fruͤhere Art von Ausſchweifungen iſt, die
ſie zu groͤſſern in reifern Jahren zubereitet, nem-
lich zu Romanen, verliebten Hiſtoͤrgen, Liedern

und
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[324/0332] Polly Horton war die Tochter einer Frau von Stande, und gutem Herkommen; deren Ehemann, ein Mann von Familie und Anſe- hen, Hauptmann unter der Koͤniglichen Leib- Garde war. Er ſtarb, da Polly ungefaͤhr ihr neuntes Jahr erreichet, und hinterließ ſie, nebſt einem hinlaͤnglichen Vermoͤgen fuͤr ſie beide, der Vor- ſorge ihrer Mutter, einer lebhaften jungen Da- me von etwa ſechs und zwanzig Jahren. Die Mutter liebte ihre Polly uͤber die ma- ßen; aber es war ihr nicht gegeben, durch ei- ne genaue Aufſicht und ſorgfaͤltige Erziehung, die wahre und aͤchte Liebe einer Mutter zu zeigen. Sie putzte ſich, gab Beſuche, und ward wie- der von den munterſten Perſonen ihres Ge- ſchlechts beſucht. Jhre Augen ſchweiften al- lenthalben herum, gleich einer Frau, die Luſt hat, ihr Gluͤck im Eheſtande zum zweiten mal zu verſuchen. Dies gewoͤhnte ſie zu ſolchen Manieren, und zu einer Liebe von ſolchen Luſtbarkeiten, die ei- ne junge Wittwe, von dem lebhaften Weſen, zu aller Erziehung, ſelbſt ihrer eignen Tochter, ganz und gar ungeſchickt machen. Frau Horton hatte von Jugend auf eine Neigung zur Muſic und zur Leſung ſolcher Buͤ- cher gehabt, welche fuͤr junge Gemuͤther nur eine fruͤhere Art von Ausſchweifungen iſt, die ſie zu groͤſſern in reifern Jahren zubereitet, nem- lich zu Romanen, verliebten Hiſtoͤrgen, Liedern und

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 8. Göttingen, 1753, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa08_1753/332>, abgerufen am 24.11.2024.