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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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einem römischen Dichter folgt. Ebenso selbstverständlich ist es,
dass der Künstler je nach Bedürfnis, namentlich bei figuren-
reicheren Compositionen, Gestalten hinzufügt, die in der eigent-
lichen dramatischen Hauptquelle gar nicht vorkommen, aber vom
Mythos gegeben sind -- oder auch nicht gegeben sind, sondern
vom Künstler nach Belieben eingeführt werden. Als Beispiel
kühner und freier künstlerischer Weiterbildung des Mythos mag
hier die Münchener Medeiavase näher betrachtet werden42). Eine
Fülle von neuen Personen und neuen Motiven, die alle dem
Euripideischen Drama fremd sind, hat der Künstler in dieser
figurenreichen Composition vor uns ausgebreitet, und doch ist die
Scene, die er uns vorführt, keine andere als die Euripideische, und
kein anderes Dichtungswerk, keine spätere Überarbeitung hat
ihm vorgelegen; er verfuhr so, wie ein mit der Sage in der Euripi-
deischen Form vertrauter, aber frei schaffender und phantasie-
voller Künstler verfahren musste, der das ganze Rachewerk der
Medeia in einem Bilde vor Augen stellen wollte. Das bekannte
Dispositionsschema der unteritalischen Prachtamphora wird in
geschickter Weise zur Darstellung der beiden Hauptakte dieses
Rachewerkes benutzt: die Rache an Kreusa wird in der Mitte, die
Rache an Iason auf dem unteren Teil der Vase dargestellt.
In dem Gemach, das die Mitte der ganzen Darstellung einnimmt,
steht Kreon jammernd neben seiner von den Flammen ergriffenen
und ohnmächtig auf den Thron niedersinkenden Tochter43). Man
verlangt teilnehmende ergriffene Zuschauer bei dieser Schreckens-
scene; bei Euripides in der Botenerzählung werden dem Gebrauch
des Dramas gemäss nur untergeordnete Personen gegenwärtig

42) O. Jahn Vasensammlung König Ludwigs Nr. 810, abgebildet Millin
Tombeaux de Canose Taf. 7. (Danach Wiener Vorlegeblätter Ser. I Taf. 12).
Arch. Ztg. 1847 Taf. 3.
43) Sie heisst auf der Vase Kreonteia scil. pais oder thugater, wie
Flasch (B. d. I. 1871 p. 20) richtig erklärt; bei Euripides ist sie bekanntlich
namenlos, ebenso wie die Erakleioi paides im Herakles v. 71. Die Namen Glauke
oder Kreusa kommen erst in den upotheseis und den mythographischen Hand-
büchern auf. Heydemanns Einwürfe gegen Flasch (A. d. I. 1873 S. 23) können
mich nicht überzeugen.

einem römischen Dichter folgt. Ebenso selbstverständlich ist es,
daſs der Künstler je nach Bedürfnis, namentlich bei figuren-
reicheren Compositionen, Gestalten hinzufügt, die in der eigent-
lichen dramatischen Hauptquelle gar nicht vorkommen, aber vom
Mythos gegeben sind — oder auch nicht gegeben sind, sondern
vom Künstler nach Belieben eingeführt werden. Als Beispiel
kühner und freier künstlerischer Weiterbildung des Mythos mag
hier die Münchener Medeiavase näher betrachtet werden42). Eine
Fülle von neuen Personen und neuen Motiven, die alle dem
Euripideischen Drama fremd sind, hat der Künstler in dieser
figurenreichen Composition vor uns ausgebreitet, und doch ist die
Scene, die er uns vorführt, keine andere als die Euripideische, und
kein anderes Dichtungswerk, keine spätere Überarbeitung hat
ihm vorgelegen; er verfuhr so, wie ein mit der Sage in der Euripi-
deischen Form vertrauter, aber frei schaffender und phantasie-
voller Künstler verfahren muſste, der das ganze Rachewerk der
Medeia in einem Bilde vor Augen stellen wollte. Das bekannte
Dispositionsschema der unteritalischen Prachtamphora wird in
geschickter Weise zur Darstellung der beiden Hauptakte dieses
Rachewerkes benutzt: die Rache an Kreusa wird in der Mitte, die
Rache an Iason auf dem unteren Teil der Vase dargestellt.
In dem Gemach, das die Mitte der ganzen Darstellung einnimmt,
steht Kreon jammernd neben seiner von den Flammen ergriffenen
und ohnmächtig auf den Thron niedersinkenden Tochter43). Man
verlangt teilnehmende ergriffene Zuschauer bei dieser Schreckens-
scene; bei Euripides in der Botenerzählung werden dem Gebrauch
des Dramas gemäſs nur untergeordnete Personen gegenwärtig

42) O. Jahn Vasensammlung König Ludwigs Nr. 810, abgebildet Millin
Tombeaux de Canose Taf. 7. (Danach Wiener Vorlegeblätter Ser. I Taf. 12).
Arch. Ztg. 1847 Taf. 3.
43) Sie heiſst auf der Vase Κρεοντεία scil. παῖς oder ϑυγάτηρ, wie
Flasch (B. d. I. 1871 p. 20) richtig erklärt; bei Euripides ist sie bekanntlich
namenlos, ebenso wie die Ἡράκλειοι παῖδες im Herakles v. 71. Die Namen Glauke
oder Kreusa kommen erst in den ὑποϑέσεις und den mythographischen Hand-
büchern auf. Heydemanns Einwürfe gegen Flasch (A. d. I. 1873 S. 23) können
mich nicht überzeugen.
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[37/0051] einem römischen Dichter folgt. Ebenso selbstverständlich ist es, daſs der Künstler je nach Bedürfnis, namentlich bei figuren- reicheren Compositionen, Gestalten hinzufügt, die in der eigent- lichen dramatischen Hauptquelle gar nicht vorkommen, aber vom Mythos gegeben sind — oder auch nicht gegeben sind, sondern vom Künstler nach Belieben eingeführt werden. Als Beispiel kühner und freier künstlerischer Weiterbildung des Mythos mag hier die Münchener Medeiavase näher betrachtet werden 42). Eine Fülle von neuen Personen und neuen Motiven, die alle dem Euripideischen Drama fremd sind, hat der Künstler in dieser figurenreichen Composition vor uns ausgebreitet, und doch ist die Scene, die er uns vorführt, keine andere als die Euripideische, und kein anderes Dichtungswerk, keine spätere Überarbeitung hat ihm vorgelegen; er verfuhr so, wie ein mit der Sage in der Euripi- deischen Form vertrauter, aber frei schaffender und phantasie- voller Künstler verfahren muſste, der das ganze Rachewerk der Medeia in einem Bilde vor Augen stellen wollte. Das bekannte Dispositionsschema der unteritalischen Prachtamphora wird in geschickter Weise zur Darstellung der beiden Hauptakte dieses Rachewerkes benutzt: die Rache an Kreusa wird in der Mitte, die Rache an Iason auf dem unteren Teil der Vase dargestellt. In dem Gemach, das die Mitte der ganzen Darstellung einnimmt, steht Kreon jammernd neben seiner von den Flammen ergriffenen und ohnmächtig auf den Thron niedersinkenden Tochter 43). Man verlangt teilnehmende ergriffene Zuschauer bei dieser Schreckens- scene; bei Euripides in der Botenerzählung werden dem Gebrauch des Dramas gemäſs nur untergeordnete Personen gegenwärtig 42) O. Jahn Vasensammlung König Ludwigs Nr. 810, abgebildet Millin Tombeaux de Canose Taf. 7. (Danach Wiener Vorlegeblätter Ser. I Taf. 12). Arch. Ztg. 1847 Taf. 3. 43) Sie heiſst auf der Vase Κρεοντεία scil. παῖς oder ϑυγάτηρ, wie Flasch (B. d. I. 1871 p. 20) richtig erklärt; bei Euripides ist sie bekanntlich namenlos, ebenso wie die Ἡράκλειοι παῖδες im Herakles v. 71. Die Namen Glauke oder Kreusa kommen erst in den ὑποϑέσεις und den mythographischen Hand- büchern auf. Heydemanns Einwürfe gegen Flasch (A. d. I. 1873 S. 23) können mich nicht überzeugen.

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/51>, abgerufen am 21.11.2024.