Sehen wir nicht blos auf die Form wie die Buchstabengelehrten und gewöhnlichen Kunst- kenner, sondern auf den Geist, auf das innere Leben; so sind es alle nur Dichter einer Art, mythische oder heroische Dichter; alle jene un- wesentliche Verschiedenheiten der äussern Form verschwinden, und es ist im Homer wie im Aeschylos, im Pindar wie im Sophokles, immer nur jene Verbindung und Verschmelzung des ursprünglich Wilden und Riesenhaften mit dem Sanften, was den eigenthümlichen Reiz ihrer Darstellungen ausmacht; nur in verschiedenem Verhältniß, in verschiedenen Stufen Abweichun- gen, oder Eigenheiten der Härte und der Anmuth.
Dieß, und nur dieß allein ist eigentlich Poesie; und alles was in spätern Zeiten, wo die Kunst so manches an den ursprünglichen Kern angebildet hat, so genannt wird, ist es nur, weil es einen ähnlichen Geist athmet wie jene alte Heldenfabel, oder weil es sich noch auf sie bezieht; Anwendung, Entfaltung, oder Nachbil- dung derselben ist. Wäre es nicht zu kühn, nach so wenigen Bruchstücken schon eine Vermu-
Sehen wir nicht blos auf die Form wie die Buchſtabengelehrten und gewoͤhnlichen Kunſt- kenner, ſondern auf den Geiſt, auf das innere Leben; ſo ſind es alle nur Dichter einer Art, mythiſche oder heroiſche Dichter; alle jene un- weſentliche Verſchiedenheiten der aͤuſſern Form verſchwinden, und es iſt im Homer wie im Aeſchylos, im Pindar wie im Sophokles, immer nur jene Verbindung und Verſchmelzung des urſpruͤnglich Wilden und Rieſenhaften mit dem Sanften, was den eigenthuͤmlichen Reiz ihrer Darſtellungen ausmacht; nur in verſchiedenem Verhaͤltniß, in verſchiedenen Stufen Abweichun- gen, oder Eigenheiten der Haͤrte und der Anmuth.
Dieß, und nur dieß allein iſt eigentlich Poeſie; und alles was in ſpaͤtern Zeiten, wo die Kunſt ſo manches an den urſpruͤnglichen Kern angebildet hat, ſo genannt wird, iſt es nur, weil es einen aͤhnlichen Geiſt athmet wie jene alte Heldenfabel, oder weil es ſich noch auf ſie bezieht; Anwendung, Entfaltung, oder Nachbil- dung derſelben iſt. Waͤre es nicht zu kuͤhn, nach ſo wenigen Bruchſtuͤcken ſchon eine Vermu-
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Sehen wir nicht blos auf die Form wie die
Buchſtabengelehrten und gewoͤhnlichen Kunſt-
kenner, ſondern auf den Geiſt, auf das innere
Leben; ſo ſind es alle nur Dichter einer Art,
mythiſche oder heroiſche Dichter; alle jene un-
weſentliche Verſchiedenheiten der aͤuſſern Form
verſchwinden, und es iſt im Homer wie im
Aeſchylos, im Pindar wie im Sophokles, immer
nur jene Verbindung und Verſchmelzung des
urſpruͤnglich Wilden und Rieſenhaften mit dem
Sanften, was den eigenthuͤmlichen Reiz ihrer
Darſtellungen ausmacht; nur in verſchiedenem
Verhaͤltniß, in verſchiedenen Stufen Abweichun-
gen, oder Eigenheiten der Haͤrte und der
Anmuth.
Dieß, und nur dieß allein iſt eigentlich
Poeſie; und alles was in ſpaͤtern Zeiten, wo
die Kunſt ſo manches an den urſpruͤnglichen
Kern angebildet hat, ſo genannt wird, iſt es nur,
weil es einen aͤhnlichen Geiſt athmet wie jene
alte Heldenfabel, oder weil es ſich noch auf ſie
bezieht; Anwendung, Entfaltung, oder Nachbil-
dung derſelben iſt. Waͤre es nicht zu kuͤhn,
nach ſo wenigen Bruchſtuͤcken ſchon eine Vermu-
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Schlegel, Friedrich von: Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Heidelberg, 1808, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_indier_1808/182>, abgerufen am 18.12.2024.
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