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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle (Saale), 1700.

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Das andere Capitel.
dessen haben sich die unterthanen um der ursach willen weder an der Obrigkeit
mit empörung zuvergreiffen/ noch auch denenselben dasjenige zu entziehen/ was
ihnen abgefordert wird. Dann ob die Obrigkeit mit dem fordern sündiget/
so kommet ihnen dennoch der gehorsam zu. Daher eben so wenig erlaubt ist/
daß sie sich an andern dingen/ welche der Obrigkeit zuständig sind/ vergreif-
fen/ sondern solches bleibet an sich selbs ein diebstal und sünde. 3. Zwar wo
bey der Obrigkeit etwas Christliches ist/ so haben die unterthanen ihre hülffe/
und auff gnugsame demonstration blosser unmüglichkeit würden ihnen die lasten
erleichtert werden: wir erfahren aber leider/ daß solche arme leute nirgend
gehöret oder erhöret werden/ sondern sie werden noch wol hart über alles suchen
angelassen/ oder auffs wenigste damit abgewiesen/ wo man einem etwas nach-
liesse/ berieffen sie sich alle darauff. Daher stehen sie im eussersten elend/ sol-
len unmügliche dinge thun/ und sehen nichts anders als die extrema vor sich. 4.
Jndessen erfordert die ordnung und regel des gewissens/ daß solche leut derglei-
chen alles/ auch hunger und blösse/ lieber ausstehen/ und die sache GOtt be-
fehlen/ indessen in seinen wegen bleibende was er über sie verhengen wolle.
Dieser weg ist der sicherste/ und solle man billich in demselben bleiben. Jndem
um des guten/ seiner erhaltung/ willen daß an sich böse nicht zu thun ist. 5.
Jndessen wie wir sehen/ daß GOTT der HERR mit einigen seiner gläubi-
gen so wol unwissenheit als in schwehren anfechtungen vorgegangnen sünden
grosse gedult getragen hat/ als da er die mehrere weiber bey den Vätern des A.
T. die gleichwol aus der ersten einsetzung gar ein anders wissen sollen/ und ver-
muthlich ihr gewissen sie manchmal deswegen mag gerühret haben/ getragen/
auch wegen der last der anfechtung dem lieben Job vieles harte zu gut gehalten
hat/ schliessen wir daraus/ daß es müglich seye/ daß ein mensch in einer stäten
sünde stehe/ entweder einer unwissenheit/ oder daß er von der gewalt einer in-
nerlichen und eusserlichen noth/ die ihm zu überwinden zu schwer wird/ und
dannoch solche ihm/ da er in dem übrigen ein redliches hertz vor GOTT hat/
nicht zur boßheit/ sondern schwachheit zugerechnet/ und er also nicht gantz von
den gnade ausgeschlossen werde. So wolte ich in diesem fall auch glauben/
daß der gütigste himmlische Vater/ dem seiner kinder noth und schwachheit so be-
kant ist/ als zu hertzen gehet/ mit dergleichen armen einige gedult trage. Da-
her wo ein solcher mensch in dem übrigen nach allem vermögen sich Christlich be-
zeuget/ und an sich die zeichen eines kindes GOTTes weiset/ sich dieses un-
ordentlichen mittels nicht anders als zu der eussersten noth und abstattung der auf-
erlegten last gebrauchet/ hingegen an nichts anders bey sich und den seinigen
das dazu gehörige ersparen könte/ sondern bey der blossen nothdurfft bleibet/
dieses auch zu dergleichen genöthiget zu werden vor seyn gröstes elend hält/ an
statt dessen er lieber ander schweres leiden wolte/ aber nicht anders seyn und der

sei-

Das andere Capitel.
deſſen haben ſich die unterthanen um der urſach willen weder an der Obrigkeit
mit empoͤrung zuvergreiffen/ noch auch denenſelben dasjenige zu entziehen/ was
ihnen abgefordert wird. Dann ob die Obrigkeit mit dem fordern ſuͤndiget/
ſo kommet ihnen dennoch der gehorſam zu. Daher eben ſo wenig erlaubt iſt/
daß ſie ſich an andern dingen/ welche der Obrigkeit zuſtaͤndig ſind/ vergreif-
fen/ ſondern ſolches bleibet an ſich ſelbs ein diebſtal und ſuͤnde. 3. Zwar wo
bey der Obrigkeit etwas Chriſtliches iſt/ ſo haben die unterthanen ihre huͤlffe/
und auff gnugſame demonſtration bloſſer unmuͤglichkeit wuͤrden ihnen die laſten
erleichtert werden: wir erfahren aber leider/ daß ſolche arme leute nirgend
gehoͤret oder erhoͤret werden/ ſondern ſie werden noch wol hart uͤber alles ſuchen
angelaſſen/ oder auffs wenigſte damit abgewieſen/ wo man einem etwas nach-
lieſſe/ berieffen ſie ſich alle darauff. Daher ſtehen ſie im euſſerſten elend/ ſol-
len unmuͤgliche dinge thun/ und ſehen nichts anders als die extrema vor ſich. 4.
Jndeſſen erfordert die ordnung und regel des gewiſſens/ daß ſolche leut derglei-
chen alles/ auch hunger und bloͤſſe/ lieber ausſtehen/ und die ſache GOtt be-
fehlen/ indeſſen in ſeinen wegen bleibende was er uͤber ſie verhengen wolle.
Dieſer weg iſt der ſicherſte/ und ſolle man billich in demſelben bleiben. Jndem
um des guten/ ſeiner erhaltung/ willen daß an ſich boͤſe nicht zu thun iſt. 5.
Jndeſſen wie wir ſehen/ daß GOTT der HERR mit einigen ſeiner glaͤubi-
gen ſo wol unwiſſenheit als in ſchwehren anfechtungen vorgegangnen ſuͤnden
groſſe gedult getragen hat/ als da er die mehrere weiber bey den Vaͤtern des A.
T. die gleichwol aus der erſten einſetzung gar ein anders wiſſen ſollen/ und ver-
muthlich ihr gewiſſen ſie manchmal deswegen mag geruͤhret haben/ getragen/
auch wegen der laſt der anfechtung dem lieben Job vieles harte zu gut gehalten
hat/ ſchlieſſen wir daraus/ daß es muͤglich ſeye/ daß ein menſch in einer ſtaͤten
ſuͤnde ſtehe/ entweder einer unwiſſenheit/ oder daß er von der gewalt einer in-
nerlichen und euſſerlichen noth/ die ihm zu uͤberwinden zu ſchwer wird/ und
dannoch ſolche ihm/ da er in dem uͤbrigen ein redliches hertz vor GOTT hat/
nicht zur boßheit/ ſondern ſchwachheit zugerechnet/ und er alſo nicht gantz von
den gnade ausgeſchloſſen werde. So wolte ich in dieſem fall auch glauben/
daß der guͤtigſte himmliſche Vater/ dem ſeiner kinder noth und ſchwachheit ſo be-
kant iſt/ als zu hertzen gehet/ mit dergleichen armen einige gedult trage. Da-
her wo ein ſolcher menſch in dem uͤbrigen nach allem vermoͤgen ſich Chriſtlich be-
zeuget/ und an ſich die zeichen eines kindes GOTTes weiſet/ ſich dieſes un-
ordentlichen mittels nicht anders als zu der euſſerſten noth und abſtattung der auf-
erlegten laſt gebrauchet/ hingegen an nichts anders bey ſich und den ſeinigen
das dazu gehoͤrige erſparen koͤnte/ ſondern bey der bloſſen nothdurfft bleibet/
dieſes auch zu dergleichen genoͤthiget zu werden vor ſeyn groͤſtes elend haͤlt/ an
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[222/1022] Das andere Capitel. deſſen haben ſich die unterthanen um der urſach willen weder an der Obrigkeit mit empoͤrung zuvergreiffen/ noch auch denenſelben dasjenige zu entziehen/ was ihnen abgefordert wird. Dann ob die Obrigkeit mit dem fordern ſuͤndiget/ ſo kommet ihnen dennoch der gehorſam zu. Daher eben ſo wenig erlaubt iſt/ daß ſie ſich an andern dingen/ welche der Obrigkeit zuſtaͤndig ſind/ vergreif- fen/ ſondern ſolches bleibet an ſich ſelbs ein diebſtal und ſuͤnde. 3. Zwar wo bey der Obrigkeit etwas Chriſtliches iſt/ ſo haben die unterthanen ihre huͤlffe/ und auff gnugſame demonſtration bloſſer unmuͤglichkeit wuͤrden ihnen die laſten erleichtert werden: wir erfahren aber leider/ daß ſolche arme leute nirgend gehoͤret oder erhoͤret werden/ ſondern ſie werden noch wol hart uͤber alles ſuchen angelaſſen/ oder auffs wenigſte damit abgewieſen/ wo man einem etwas nach- lieſſe/ berieffen ſie ſich alle darauff. Daher ſtehen ſie im euſſerſten elend/ ſol- len unmuͤgliche dinge thun/ und ſehen nichts anders als die extrema vor ſich. 4. Jndeſſen erfordert die ordnung und regel des gewiſſens/ daß ſolche leut derglei- chen alles/ auch hunger und bloͤſſe/ lieber ausſtehen/ und die ſache GOtt be- fehlen/ indeſſen in ſeinen wegen bleibende was er uͤber ſie verhengen wolle. Dieſer weg iſt der ſicherſte/ und ſolle man billich in demſelben bleiben. Jndem um des guten/ ſeiner erhaltung/ willen daß an ſich boͤſe nicht zu thun iſt. 5. Jndeſſen wie wir ſehen/ daß GOTT der HERR mit einigen ſeiner glaͤubi- gen ſo wol unwiſſenheit als in ſchwehren anfechtungen vorgegangnen ſuͤnden groſſe gedult getragen hat/ als da er die mehrere weiber bey den Vaͤtern des A. T. die gleichwol aus der erſten einſetzung gar ein anders wiſſen ſollen/ und ver- muthlich ihr gewiſſen ſie manchmal deswegen mag geruͤhret haben/ getragen/ auch wegen der laſt der anfechtung dem lieben Job vieles harte zu gut gehalten hat/ ſchlieſſen wir daraus/ daß es muͤglich ſeye/ daß ein menſch in einer ſtaͤten ſuͤnde ſtehe/ entweder einer unwiſſenheit/ oder daß er von der gewalt einer in- nerlichen und euſſerlichen noth/ die ihm zu uͤberwinden zu ſchwer wird/ und dannoch ſolche ihm/ da er in dem uͤbrigen ein redliches hertz vor GOTT hat/ nicht zur boßheit/ ſondern ſchwachheit zugerechnet/ und er alſo nicht gantz von den gnade ausgeſchloſſen werde. So wolte ich in dieſem fall auch glauben/ daß der guͤtigſte himmliſche Vater/ dem ſeiner kinder noth und ſchwachheit ſo be- kant iſt/ als zu hertzen gehet/ mit dergleichen armen einige gedult trage. Da- her wo ein ſolcher menſch in dem uͤbrigen nach allem vermoͤgen ſich Chriſtlich be- zeuget/ und an ſich die zeichen eines kindes GOTTes weiſet/ ſich dieſes un- ordentlichen mittels nicht anders als zu der euſſerſten noth und abſtattung der auf- erlegten laſt gebrauchet/ hingegen an nichts anders bey ſich und den ſeinigen das dazu gehoͤrige erſparen koͤnte/ ſondern bey der bloſſen nothdurfft bleibet/ dieſes auch zu dergleichen genoͤthiget zu werden vor ſeyn groͤſtes elend haͤlt/ an ſtatt deſſen er lieber ander ſchweres leiden wolte/ aber nicht anders ſeyn und der ſei-

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle (Saale), 1700, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken01_1700/1022>, abgerufen am 27.11.2024.