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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle (Saale), 1700.

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SECTIO XXXII.
tes sein leben führet/ so wichtig halte/ daß auch unser leben uns nicht zu theu-
er seyn solte/ wo es nothwendig wäre/ solches nicht weniger um dieses als an-
derer articul willen zu lassen. Der HErr nehme sich seiner kirchen kräfftig
an/ lasse diejenige göttliche wahrheit/ so in seinem wort gegründet ist/ und in
unsren eignen bekäntnüssen bezeuget wird/ in alle hertzen zu völliger überzeu-
gung einleuchten/ und wehre denjenigen/ welche denselben aus unwissenheit
oder boßheit sich widersetzen/ sie zu gleicher erkäntnüß zu bringen/ oder da sie
sich verhärten/ ihnen die hände zu binden/ damit sie andere dero begierige see-
len davon abzuhalten nicht vermögen. 1689.

SECTIO XXXII.
Ob GOtt von den wiedergebohrnen die vollkom-
mene erfüllung des gesetzes erfordere? Und ob ein mensch
etwas im zorn von GOtt erhalten könne?

DJe frage anlangend: Ob GOtt von denen wiedergebohrnen auch
die vollkommene erfüllung des gesetzes erfordere?
so ists diejeni-
ge difficultät/ weswegen Herr Stenger einen unterscheid unter Mo-
sis und Christi gesetz gemacht hat/ welcher aber von andern Theologis hefftig
widerfochten worden/ und nicht nöthig/ sondern vielmehr der schrifft entge-
gen ist. Dann GOttes durch Mosen gegebenes gesetz/ wie es der austruck
göttlicher unveränderlicher gerechtigkeit ist/ also ist es unveränderlich/ und
kan was die verbindung desselben anlangt/ nicht das geringste dran remittiret
werden. Daher wir mit wahrheit sagen/ GOtt fordere nach dem gesetz auch
noch von den wiedergebohrnen dessen vollkommene erfüllung/ also daß was
sie dagegen auch unvermeidlich sündigen/ wahrhafftig sünde ist/ so es nicht
wäre/ wo nicht alles von ihnen noch gefordert würde: Aber wo sie nach der
gnade/ die ihnen mitgetheilet ist/ dem gesetz/ ob wol einen unvollkommenen
doch redlichen und kindlichen gehorsam leisten/ so träget er mit ihnen gedult/
und nach der gnade des Evangelii nimmt er solchen gehorsam an/ und vergibt
um Christi willen solchen glaubigen/ was noch dran mangelt. Also ist die ob-
ligation
nicht auffgehoben/ aber gnade versprochen denen/ die sie auch nicht
erfüllen können. Wie ein eigenthums-herr an seinen pachtmann das gut
einthut/ und einen gewissen pacht setzt: da er dann solchen selbst nicht mindert/
sondern ob etwa mißjahr sind/ mit einem wenigern sich vergnügen läst/ ohne
deswegen an der schuldigkeit selbst etwas nachzulassen/ daher es der pacht-
mann allezeit für eine gnade zu halten hat/ nicht aber daß er dißmahl nicht
mehr wäre schuldig gewesen. Also mit wenigem/ wir haben die Evangeli-
sche dispensation, davon zuweilen Christliche lehrer geredet/ nicht zu suchen

in
A a 3

SECTIO XXXII.
tes ſein leben fuͤhret/ ſo wichtig halte/ daß auch unſer leben uns nicht zu theu-
er ſeyn ſolte/ wo es nothwendig waͤre/ ſolches nicht weniger um dieſes als an-
derer articul willen zu laſſen. Der HErr nehme ſich ſeiner kirchen kraͤfftig
an/ laſſe diejenige goͤttliche wahrheit/ ſo in ſeinem wort gegruͤndet iſt/ und in
unſren eignen bekaͤntnuͤſſen bezeuget wird/ in alle hertzen zu voͤlliger uͤberzeu-
gung einleuchten/ und wehre denjenigen/ welche denſelben aus unwiſſenheit
oder boßheit ſich widerſetzen/ ſie zu gleicher erkaͤntnuͤß zu bringen/ oder da ſie
ſich verhaͤrten/ ihnen die haͤnde zu binden/ damit ſie andere dero begierige ſee-
len davon abzuhalten nicht vermoͤgen. 1689.

SECTIO XXXII.
Ob GOtt von den wiedergebohrnen die vollkom-
mene erfuͤllung des geſetzes erfordere? Und ob ein menſch
etwas im zorn von GOtt erhalten koͤnne?

DJe frage anlangend: Ob GOtt von denen wiedergebohrnen auch
die vollkommene erfuͤllung des geſetzes erfordere?
ſo iſts diejeni-
ge difficultaͤt/ weswegen Herr Stenger einen unterſcheid unter Mo-
ſis und Chriſti geſetz gemacht hat/ welcher aber von andern Theologis hefftig
widerfochten worden/ und nicht noͤthig/ ſondern vielmehr der ſchrifft entge-
gen iſt. Dann GOttes durch Moſen gegebenes geſetz/ wie es der austruck
goͤttlicher unveraͤnderlicher gerechtigkeit iſt/ alſo iſt es unveraͤnderlich/ und
kan was die veꝛbindung deſſelben anlangt/ nicht das geringſte dran remittiret
werden. Daher wir mit wahrheit ſagen/ GOtt fordere nach dem geſetz auch
noch von den wiedergebohrnen deſſen vollkommene erfuͤllung/ alſo daß was
ſie dagegen auch unvermeidlich ſuͤndigen/ wahrhafftig ſuͤnde iſt/ ſo es nicht
waͤre/ wo nicht alles von ihnen noch gefordert wuͤrde: Aber wo ſie nach der
gnade/ die ihnen mitgetheilet iſt/ dem geſetz/ ob wol einen unvollkommenen
doch redlichen und kindlichen gehorſam leiſten/ ſo traͤget er mit ihnen gedult/
und nach der gnade des Evangelii nimmt er ſolchen gehorſam an/ und vergibt
um Chriſti willen ſolchen glaubigen/ was noch dran mangelt. Alſo iſt die ob-
ligation
nicht auffgehoben/ aber gnade verſprochen denen/ die ſie auch nicht
erfuͤllen koͤnnen. Wie ein eigenthums-herr an ſeinen pachtmann das gut
einthut/ und einen gewiſſen pacht ſetzt: da er dann ſolchen ſelbſt nicht mindert/
ſondern ob etwa mißjahr ſind/ mit einem wenigern ſich vergnuͤgen laͤſt/ ohne
deswegen an der ſchuldigkeit ſelbſt etwas nachzulaſſen/ daher es der pacht-
mann allezeit fuͤr eine gnade zu halten hat/ nicht aber daß er dißmahl nicht
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A a 3
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[189/0205] SECTIO XXXII. tes ſein leben fuͤhret/ ſo wichtig halte/ daß auch unſer leben uns nicht zu theu- er ſeyn ſolte/ wo es nothwendig waͤre/ ſolches nicht weniger um dieſes als an- derer articul willen zu laſſen. Der HErr nehme ſich ſeiner kirchen kraͤfftig an/ laſſe diejenige goͤttliche wahrheit/ ſo in ſeinem wort gegruͤndet iſt/ und in unſren eignen bekaͤntnuͤſſen bezeuget wird/ in alle hertzen zu voͤlliger uͤberzeu- gung einleuchten/ und wehre denjenigen/ welche denſelben aus unwiſſenheit oder boßheit ſich widerſetzen/ ſie zu gleicher erkaͤntnuͤß zu bringen/ oder da ſie ſich verhaͤrten/ ihnen die haͤnde zu binden/ damit ſie andere dero begierige ſee- len davon abzuhalten nicht vermoͤgen. 1689. SECTIO XXXII. Ob GOtt von den wiedergebohrnen die vollkom- mene erfuͤllung des geſetzes erfordere? Und ob ein menſch etwas im zorn von GOtt erhalten koͤnne? DJe frage anlangend: Ob GOtt von denen wiedergebohrnen auch die vollkommene erfuͤllung des geſetzes erfordere? ſo iſts diejeni- ge difficultaͤt/ weswegen Herr Stenger einen unterſcheid unter Mo- ſis und Chriſti geſetz gemacht hat/ welcher aber von andern Theologis hefftig widerfochten worden/ und nicht noͤthig/ ſondern vielmehr der ſchrifft entge- gen iſt. Dann GOttes durch Moſen gegebenes geſetz/ wie es der austruck goͤttlicher unveraͤnderlicher gerechtigkeit iſt/ alſo iſt es unveraͤnderlich/ und kan was die veꝛbindung deſſelben anlangt/ nicht das geringſte dran remittiret werden. Daher wir mit wahrheit ſagen/ GOtt fordere nach dem geſetz auch noch von den wiedergebohrnen deſſen vollkommene erfuͤllung/ alſo daß was ſie dagegen auch unvermeidlich ſuͤndigen/ wahrhafftig ſuͤnde iſt/ ſo es nicht waͤre/ wo nicht alles von ihnen noch gefordert wuͤrde: Aber wo ſie nach der gnade/ die ihnen mitgetheilet iſt/ dem geſetz/ ob wol einen unvollkommenen doch redlichen und kindlichen gehorſam leiſten/ ſo traͤget er mit ihnen gedult/ und nach der gnade des Evangelii nimmt er ſolchen gehorſam an/ und vergibt um Chriſti willen ſolchen glaubigen/ was noch dran mangelt. Alſo iſt die ob- ligation nicht auffgehoben/ aber gnade verſprochen denen/ die ſie auch nicht erfuͤllen koͤnnen. Wie ein eigenthums-herr an ſeinen pachtmann das gut einthut/ und einen gewiſſen pacht ſetzt: da er dann ſolchen ſelbſt nicht mindert/ ſondern ob etwa mißjahr ſind/ mit einem wenigern ſich vergnuͤgen laͤſt/ ohne deswegen an der ſchuldigkeit ſelbſt etwas nachzulaſſen/ daher es der pacht- mann allezeit fuͤr eine gnade zu halten hat/ nicht aber daß er dißmahl nicht mehr waͤre ſchuldig geweſen. Alſo mit wenigem/ wir haben die Evangeli- ſche diſpenſation, davon zuweilen Chriſtliche lehrer geredet/ nicht zu ſuchen in A a 3

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle (Saale), 1700, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken01_1700/205>, abgerufen am 23.11.2024.